FORUM – SKIN 02/2015 – La Passerelle, Saint-Malo/FR
Die 110 Meter lange Südfassade wird durch raumhohe Stützen aus Lärchenholz mit intergrierten Lichtschienen charakterisiert. |
EINLADUNG ZUR ENTDECKUNGSREISE
Am 26. Dezember 2014 wurde das vom Pariser Architekturbüro
AS.Architecture-Studio entworfene Kulturzentrum „La Passerelle“ offiziell der
Öffentlichkeit übergeben. Es bildet das Zentrum eines Neubaugebiets an den
Toren der bretonischen Stadt Saint-Malo, und liegt an der Grenze zwischen den
drei Kommunen Saint-Servan, Paramé und Intramuros. Das Kulturzentrum mit
seiner Mediathek, drei Kinosälen, einem Ausstellungsbereich, dem Literaturcafé
und dem gemeinschaftlich nutzbaren Internetcafé soll diese Stadtteile verbinden
und ihnen neue Zentralität verleihen.
TEXT MICHAEL KOLLER
FOTOS FREDERIC BARON UND LUC BOEGLY
FOTOS FREDERIC BARON UND LUC BOEGLY
In der Abenddämmerung entwickeln sich auf den verglasten, gebäudehohen Westfassaden spannende Lichtspiele zwischen den Spiegelungen des Himmels und den Beleuchtungen aus dem Gebäudeinneren. |
Saint-Malo gilt seit jeher als touristische Hochburg. Die Stadt ist aber
auch seit Jahrzehnten Veranstaltungsort wichtiger, jährlich stadtfindender und
international bekannter Literatur- und Musikfestivals. „Kultur ist eine
Entdeckungsreise“, meint Alain Bretagnolle, Projektleiter und Partner von
AS.Architecture-Studio. „Die Stadt existiert, weil die Kultur existiert und
umgekehrt. Ein Großteil unserer Kultur wird durch städtische Institutionen wie
Museen, Theater oder Kinos getragen.“ In den Augen der Architekten befruchtet
die Kultur die Stadt und umgekehrt. Architektonisch und bautechnisch
übersetzten sie diese Überzeugung in ein Bauwerk, dass durch gebäudehohe Glasfassaden
die Transparenz zur Stadt hin sucht. Letztere erlauben transversale Blicke in
Ost-West- und Nord-Südrichtung und schaffen Blickbeziehungen zwischen dem
Gebäudeinneren und der umliegenden Stadt. Parallel dazu projizieren zwei große
LED-Schirme Veranstaltungen des Kulturzentrums nach außen und informieren über
das Angebot kultureller Veranstaltungen in Saint-Malo.
EIN BEWEGENDES GEBÄUDE
La Passerelle, bildet die symbolische Brücke zwischen dem Landesinneren
und dem Meer, Stadterweiterung und historischer Altstadt, eine Brücke zwischen
Kinosälen und Mediathek sowie einen Zugang zum Wissen mit all seinen Facetten.
Der Bau wurde erst durch die Verlegung des TGVBahnhofs um einige hundert Meter
nach Osten und der damit verbundenen Schaffung des Platzes am Ende der Avenue Louis
Martin möglich. Durch eine von Stéphane Guédon und Yves Pérouze 2009
fertiggestellte Wohn- und Geschäftsbebauung entstand ein streng orthogonaler
Platz, der das Kulturzentrum räumlich umschließt. Inmitten dieses Platzes lässt
der Lageplan zwei Gebäudeteile mit einem scheinbar fischartigen Grundriss
erkennen, die über eine verglaste Lobby in deren Mitte verbunden sind. Für
AS.Architecture-Studio sollte das Kino und die Mediathek von Beginn an eine
kulturelle und wissensbildende Institution darstellen, weshalb sie die beiden
Einrichtungen im Gegensatz zum Wettbewerbsprogramm nicht als zwei separate
Volumen, sondern als eine funktionelle und optische Einheit entwarfen.
Grundriss Erdgeschoss. |
Die Architekten organisierten die Mediathek mit den Büros und den Depots
im nördlichen Teil, die drei Kinosäle, Ausstellungsbereich und Cafés an der
Südseite. Diese Anordnung verlängert die Hauptachse zwischen Bahnhof und Altstadt
und lässt diese direkt durch das Gebäude laufen, wodurch der
Öffentlichkeitscharakter des Kulturzentrums zusätzlich betont wird. So
entstanden an der West- und Ostseite des Komplexes zwei Vorplätze, die Anrainer
und Schüler des nahegelegenen Gymnasiums täglich nützen.
Das Gebäude fällt durch die geschwungenen Linien seiner Fassaden und die
Höhenentwicklung seiner Volumen auf, die in der Außenraumgestaltung ihre
Fortsetzung finden. Tatsächlich scheint sich das Gebäude in einer natürlichen
Bewegung aus dem Grund zu erheben. Die Gestaltung der Außenflächen und der
Innenräume bilden dementsprechend eine einheitliche Handschrift und sind Teil
einer Materialästhetik. Während das Volumen der Mediathek von Ost nach West
breiter wird und ansteigt, verringert sich das Volumen mit den Kinosälen in
einer Gegenbewegung. Die beiden Volumen werden optisch durch die dunkle,
geschwungene und gedrehte Schleife der Photovoltaikanlage miteinander
verbunden.
NACH AUSSEN GESCHLOSSEN
Die zwei wichtigsten Fassaden des Ensembles sind aber jene der kürzeren
Ost- bzw. Westseite. Mit ihren im Obergeschoß auskragenden Volumen scheinen sie
sich an der Westseite in Richtung Stadt oder Meer, an der Ostseite zum Bahnhof
im Landesinneren hin zu orientieren. Wie eine Klammer fassen die beiden
geschlossenen, straßenseitigen und in perlmuttfarbenem Weiß lasierten Betonfassaden
den Gebäudekomplex ein. Die nördliche, zur Rue Nicolas Bouvier orientierte
Fassade der Mediathek besitzt nur kleine aleatorisch angeordnete, rechteckige Fenster
mit Fixverglasungen, am östlichen Ende durchbrochen durch den mit Zink
verkleideten, auf Betonstützen aufgeständerten Büroflügel. Dieser
anthrazitfarbene, metallummantelte Baukörper wird von den Architekten als städtisches
Element gesehen, das die Mediathek durchschneidet und aus der westseitigen
Glasfassade als großer Projektionsschirm auskragt. Der Gang dieses langen,
elegant gekrümmten Bauteils wird im Bereich der Mediathek zu einer Arkade, von
der aus man auf die doppelgeschoßige Mediathek hinunterblicken kann.
Hinter der südseitigen zur Rue Théodore Monod hin orientierten
Betonfassade verbergen sich die Projektionsschirme der drei Kinosäle. Nur die
verglasten Gänge, die die einzelnen Säle voneinander trennen, unterbrechen die
Massivität dieser Straßenfassade. Sie wird durch Gedichte und Sprüche bekannter
Schriftsteller und die Schattenbilder der davor gepflanzten Bäume belebt. Im
Gegensatz zu diesen beiden Straßenfronten sind die inneren Schauseiten ebenso wie
die West- und Ostfassaden fast vollständig verglast.
In der lichtdurchfluteneden Mediathek dominieren Lärchenholz und Zink des eingeschobenen Volumen des Bürobereichs. |
NACH INNEN OFFEN
Der wahre Eyecatcher aber ist die Mediathek, die Alain Bretagnolle auch
gerne „Kathedrale des Wissens“ nennt. Ähnlich wie bei den unterschiedlichen
Böden aus gewachstem Beton oder aus bretonischem Granit versuchten die Architekten
auch hier mit natürlichen Materialien zu arbeiten und diese auch sichtbar zu
machen. Das gebäudehohe Volumen wird an seiner 110 Meter langen Südfassade von einer
Reihe tragender und in einem Achsabstand von 1,70 Metern positionierten
Lärchenholzstützen mit integrierten Beleuchtungsschienen begrenzt. Diese
Holzleimbinder, die man auch im Bereich der Kinogalerie wiederfindet, variieren
in ihrer Länge von 5 bis 12 Metern. In der Mediathek finden sie Ergänzung in
den Kanthölzern der akustischen Lärchenholzdecke, was die fließende Forme des
hohen Baukörpers noch unterstreicht. Um eine Überhitzung des Raumes zu verhindern,
wurden in die Glasfassadengestaltung zusätzlich höhenversetzte, außenliegende
Jalousien integriert.
Die ums Eck gezogene Glasfassade stößt an die unkonventionell perforierte Nordfassade aus Beton. |
FÜNFTE FASSADE
Die fünfte Fassade bildet das 2350 Quadratmeter große, begrünte Dach. Es
wurde nach den Vorstellungen von AS.Architecture-Studio und in Zusammenarbeit
mit der Landschaftsarchitektin Françoise Arnaud mit unterschiedlichsten Pflanzenarten
in einem Zeitraum von nur zwei Wochen bepflanzt. Dieser Pflanzenteppich wurde
nach einem genauen Schema, das die Orientierung der Dachflächen und die
Beschattung durch die Photovoltaikschleife berücksichtigt, angelegt. Die 140
Meter lange, 7 bis 10 Meter breite und 3 bis 4 Meter hohe Schleife mit den 640 Photovoltaikpaneelen
schwingt sich wie ein eigenständiger Bauteil von einem Volumen zum anderen und
bildet damit ein zentrales architektonisches Element. Die Paneele sind auf
einem Fachwerk aus Rundstahl aufgeständert und fungieren als
Beschattungselement des verglasten Foyers und der verglasten Südfassade der
Mediathek. Der von der Photovoltaikanlage produzierte Strom wird zum Antrieb der
Pumpen der 26 vertikalen und in eine Tiefe von 190 Meter reichenden Sonden der
Geothermieanlage, die mit Wärmepumpen gekoppelt sind, verwendet. Das Gebäude entspricht
den französischen Niedrigenergiehausstandards
(bâtiment basse consommation – BBC), auch wenn diese Art der
Zertifizierung für öffentliche Kulturbauwerke nicht besteht. Ortstypische
Schieferplatten machen das Dach zu Wartunsgzwecken begehbar.
Das Ensemble besticht durch seine eigenständige Architektur, Formensprache und Materialverwendung. Die gekrümmten und zum Großteil verglasten Volumen eröffnen dem Besucher vielfältige Perspektiven vor allem von innen nach außen. Die sich nach dem Terroranschlag auf Charlie Hebdo im Jänner spontan vor dem Gebäude versammelte Menschenmenge zeugt bereits vom Erfolg des Bauwerks als neuer, zentraler und fixer Bestandteil des Gebiets.
Die gekrümmten und verglasten Volumen kreieren vielfältige Perspektiven. |
Das Ensemble besticht durch seine eigenständige Architektur, Formensprache und Materialverwendung. Die gekrümmten und zum Großteil verglasten Volumen eröffnen dem Besucher vielfältige Perspektiven vor allem von innen nach außen. Die sich nach dem Terroranschlag auf Charlie Hebdo im Jänner spontan vor dem Gebäude versammelte Menschenmenge zeugt bereits vom Erfolg des Bauwerks als neuer, zentraler und fixer Bestandteil des Gebiets.
La
Grande Passerelle, Pôle Culturel de Saint-Malo
Rue Théodore Monod, 35400 Saint-Malo, Frankreich
Architekten: Architecture-Studio
Bauherr: Gemeinde Saint-Malo
Landschaftsgestaltung: Françoise Arnaud
Bauleitung: Direction du Patrimoine
Haustechnik und Elektroplanung: Arcoba
Statik und Fassadenplanung: T/E/S/S
Lichtplanung: 8’18” / Thomas Kieffer
Akkustik: AVA
Solartechnik: Talev
Wettbewerb: 2009
Fertigstellung: 2014
Bruttogrundfläche: 6.500 m²
Aussenflächen: 10.224 m²