FORUM 06/2015 – INTERVIEW – Joost Meuwissen, Amsterdam/NL
Joost Meuwissen © Larry R. Williams |
Vom Diskursiven im Städtebau
Stadtplanung mit der ihr inhärenten Diskussionsebne
und der steten Suche nach geeigneten Theorien und Visionen für das
Zusammenleben in unserer verstädterten Gesellschaft ist eine ebenso
faszinierende wie leidenschaftliche Tätigkeit. Dies widerspiegelt auch das
Gespräch, das FORUM mit dem Architekten Joost Meuwissen, Vorstand des
Städtebauinstituts der TU Graz, geführt hat: einige Beobachtungen eines
Niederländers, der die neue Generation der Stadtplaner seit mittlerweile vielen
Jahren formt.
Michael Koller im Gespräch mit Joost
Meuwissen
Sie pendeln regelmäßig zwischen Amsterdam, wo Sie
nach wie vor ein Büro haben, und Graz. Bauen Sie denn auch noch?
Nein, aber es war auch eine bewusste Entscheidung, nur zu unterrichten und
zu schreiben. Der ehemalige Herausgeber von 010 Publishers sagte einmal zu mir:
„Du brauchst nicht zu bauen, mit dem Schreiben erreichst du ein viel breiteres
Publikum.“ Das Wichtige sind Aussagen und Publikationen, Texte und Ideen. Wenn
man Ideen entwickeln kann, ist es auch nicht wichtig, wo man sie entwickelt.
Neben Ihrer Tätigkeit als Leiter des Städtebauinstituts
der TU Graz sind Sie Architektur- und Städtebaukritiker und publizieren regelmäßig
in Fachzeitschriften. Wie kam es dazu?
Ich habe nach meinem Diplom begonnen, Architekturkritiken zu schreiben, vor
allem über Projekte meiner bauenden Kollegen, hatte aber bis dahin selbst noch
nichts gebaut. Kritiker wurden damals als Architekten zweiter Klasse angesehen.
Es gab zur damaligen Zeit in den Niederlanden etwa keine Tradition der
Architekturkritik – das war etwas absolut Neues –, und so habe ich dann auch zu
bauen begonnen.
Als Sie in Graz die Professur für Städtebau
erhielten, waren Sie in erster Linie als Partnerarchitekt von One Architecture bekannt, nicht aber als Städtebauspezialist. Wie
kam das?
Mein Vorgänger hier am Städtebauinstitut war lange krank und eine
Nachbesetzung der Funktion somit unumgänglich. Ich wurde damals zu einer von
der Hochschülerschaft organisierten Vortragsreihe namens „Stadt im Arsch“
eingeladen, einer Einladung, der ich aber aufgrund des Titels anfänglich eigentlich
nicht folgen wollte. Schließlich sagte ich dann auf Urgieren von Günther
Domenig, der immer an neuen Ideen interessiert war, doch zu. Er war letztlich
auch der Grund, mich doch für die Stelle zu bewerben und diese auch anzunehmen.
Aber ich hatte tatsächlich bis dahin niemals Städtebau gemacht.
Somit mussten Sie sich zu Beginn Ihrer
Lehrtätigkeit erst einmal in die Materie einarbeiten.
Ja, genau. Allerdings bin ich auf der planenden Seite, also in all dem, was
Gesetzgebung und technische Vorschriften anbelangt, nach wie vor kein Experte.
Was allerdings die Theorien zum Städtebau anbelangt, denke ich, doch ein wahrer
Spezialist geworden zu sein.
Pläne und Konzepte im Städtebau umzusetzen
scheint noch schwieriger als in der Architektur. Meist führen neue
Stadtplanungskonzepte nicht zu einschneidenden Resultaten.
Das würde ich nicht sagen. Es bleibt immer etwas hängen. Bei der Umsetzung
des Masterplans für die Bebauung der Stieglgründe in Salzburg etwa, den ich
zusammen mit Matthiijs Bouw 1996 entworfen habe, ist durchwegs etwas Positives
herausgekommen, und die Wohnbauten verfügen dort über eine hohe städtebauliche
Qualität. Auch ich war anfänglich gegen das Siegerprojekt des
Bauträgerwettbewerbs, dennoch bin ich der Überzeugung, dass die heutige
Wohnqualität ohne vorausgehenden städtebaulichen Plan nicht zustande gekommen
wäre. Natürlich ist es anfänglich oft enttäuschend zu sehen, wie wenig von der
ursprünglichen städtebaulichen Ambition übrig bleibt, aber rückwirkend
betrachtet ist das Resultat dennoch erfreulich.
Stadtplanung ist ein unglaublich lang andauernder
Prozess. Ist das nicht manchmal frustrierend?
Gerade die Länge der Planungszeiträume finde ich sehr schön und beruhigend.
Man denkt hier immer in Jahren, sogar in Jahrzehnten. Das ist tut auch der
Gesundheit gut (lacht)!
In Österreich hat Stadtplanung einen nur kleinen
Anteil in der Architektenausbildung, und es gibt hierfür keinen eigenen Studienzweig.
Wäre das aber angesichts deren Bedeutung und Komplexität nicht notwendig?
Städtebau galt immer als sehr technische Disziplin. Über
Bruttogeschoßflächen und Straßenprofile zu sprechen ist aber auch sehr
langweilig. Selbst in den Niederlanden war Städtebau anfänglich zweitrangig und
blieb unbeachtet. Als ich in den 1970er-Jahren an der Universität in Delft
studierte, kam auf rund 1.500 Architekturstudenten ein Studierender des
Städtebaus. Städtebau war etwas für erfolglose Architekten, für Studenten, die
nicht gut gestalten konnten. Eben genau, weil ich gestalterisch gut war, hatte
ich mich auch für ein Architekturstudium entschieden.
Und wann oder wodurch hat sich dieses Bild in den
Niederlanden verändert?
Durch Rem Koolhaas und den Entwurf, den er mit Elia Zenghelis und Kees
Christiaanse 1982 für den Pariser Parc de la Villette präsentierte. Koolhaas
initiierte damit einen Städtebaudiskurs, den es davor nicht gegeben hatte. Er
schwor der Architektur ab und behauptete, alles sei Städtebau. Seine
wichtigsten Entwürfe sind meiner Meinung nach auch die Städtebauentwürfe.
Aber warum ist Städtebau dann so interessant
geworden?
Weil Städtebau auch eine diskursive Ebene aufweist, über die Architektur
nicht oder nicht mehr verfügt. Dies ist auf den Mangel an Möglichkeiten der
Analyse in der Architekturkritik zurückzuführen. Über Städtebau muss man
sprechen und hierzu eine entsprechende Rhetorik entwickeln. In der Architektur
ist das nicht notwendig. Ein Architekt macht Zeichnungen und entwirft spannende
Bilder, er muss keinen qualitätsvollen Werkbericht anfertigen. Das wird in der
Architektur nicht geübt.
Nun, für überzeugend gute Argumentation im Städtebau muss man üben. Man muss reden und seine argumentativen Fähigkeiten ständig weiterentwickeln. Die Planungen selbst sind dann eigentlich nur noch die Nebenprodukte dieses Diskurses.
Und im Städtebau?
Nun, überzeugend gute Argumentation im Städtebau will geübt sein. Man muss
reden und seine argumentativen Fähigkeiten ständig weiterentwickeln. Planungen
selbst sind eigentlich nur die Nebenprodukte dieses Diskurses. Die Seestadt
Aspern ist ein Beispiel dafür, welche Energien bei einer Städtebaudiskussion
frei werden können. Da gibt es eine Unmenge von Experten, zahllose Entwürfe,
Berichte, Evaluierungen, Kritiken, und Kommentare. Es gibt kein einzelnes
Gebäude, über das so viel berichtet, das so heftig diskutiert wird. Das Projekt
wirft viele Fragen auf, auch über eine Umgebung, die noch nicht einmal
existiert.
Diese Diskussionsebene und der Austausch von
Ideen ist auch das, was Sie am Städtebau nach wie vor so interessiert?
Ja, wobei es keine wirkliche Theorie im Städtebau gibt. Natürlich kennt man
Begriffe wie Geschoßflächen, Verdichtung, usw. und Methoden, wie das zu berechnen
ist, es existiert aber keine greifbare Städtebautheorie, die sich für eine
Implementierung eignen würde. Ich hatte darüber erst vor drei Monaten ein
Gespräch mit Rem Koolhaas: Ich habe ihm erklärt, dass ich gerade Camillo Sitte
lese, weil ich das Gefühl hatte, dem Begriff Städtebau auf den Grund gehen zu
müssen. Es gibt eine Menge an meist jedoch falschen Kommentaren zu Camillo
Sitte. Auch für Koolhaas steht Sitte mit seiner Theorie zur Stadtplanung allein
da. Für ihn ist Sitte sogar die intelligenteste Person, die es jemals im
Städtebau gegeben hat.
Es ist ganz schwierig, Theorien in diesem Fachbereich zu finden, weil
einfach zu kompliziert. Soziologische Theorien werden immer wichtiger und sind
begrüßenswert – wie jene von Jane Jacobs. Andererseits gibt es Referenzwerke
wie „Stadterweiterungen“ von Reinhard Baumeister von 1876 oder „Der Städtebau“
von Hermann Josef Stübben aus dem Jahr 1890, in der nur technische Ausführungen
in der Stadtplanung beschrieben werden, aber keinerlei konkrete Aussagen zur
Stadt an sich gemacht oder Konzepte und Visionen präsentiert werden, und zwar
darüber, welche allgemeinen Ziele man in der Stadtplanung verfolgen sollte.
Camillo Sitte hatte damals innerhalb dieses sehr technisch angesehenen
Fachgebiets eine Argumentations- und diskursive Denkweise entwickelt, die
selbst Le Corbusier stark beeinflusste.
2008 gilt in vielen städtebaulichen Debatten als
Schlüsseljahr, seither ist offiziell, dass mehr als die Hälfte der
Weltbevölkerung in Städten lebt. Es wird argumentiert, dass sich damit unsere
Gesellschaft und unsere Lebensweise fundamental verändert und weiter verändern
wird. Glauben Sie das auch?
90 Prozent der Städtebaudebatten sind meiner Meinung nach nur leere
Rhetorik. In der Geschichte des Städtebaus fällt auf, dass die Stadt immer sehr
negativ betrachtet wurde und wird. Im Städtebaudiskurs gilt dieser Konsens, den
jeder bejaht und auf den ich in vielen Podiumsdiskussionen stoße. Aber diese antistädtische
Haltung ist natürlich für die Entwicklung der Methodik in der städtebaulichen
Planung und im Entwurf ein Desaster. Das ärgert mich sehr. Ich ärgere mich
überhaupt sehr viel, aber daraus gewinne ich auch wichtige Energien.
Andererseits werden Städte allgemein als die idealen Auffangstätten von
Immigranten und Ausländern gesehen, als die Begegnungsstätten schlechthin, die
zur Entwicklung städtischer Kulturen führen. In der Praxis funktioniert das
aber nicht so einfach.
Was hat sich Ihrer Beobachtung nach in den
vergangenen Jahrzehnten in der Stadtplanung tatsächlich verändert? Gibt es
durch die Konzentration der Weltbevölkerung in Städten neue Prioritäten der
Planung, und wenn ja, welche?
Ich nenne das die „Soziologisierung des Städtebaus“. Es gibt heute viel
mehr Interesse für Menschen, die städtische Räume nutzen, dafür, dass und wie
nicht nur Behinderte, sondern auch Kinder, Familien, Immigranten und ältere
Menschen den Stadtraum benützen können. Eine positive Entwicklung. Vereinfacht gesagt,
plante man vor 20 Jahren nach den klassischen Straßenprofilen mit der Straße in
der Mitte und den beidseitigen Gehsteigen, aber niemand hat nach den Benutzern
gefragt.
Während man in den Niederlanden Projekte realisiert, um zu verhindern, dass die Ideen dahinter verlorengehen, verhindert man in Österreich die Umsetzung von Ideen aus Angst, dass etwas passiert.
Welche Veränderungen haben Sie seit Ihrer Grazer
Professur beobachtet. Hat sich hier der Blick auf die Stadt als Wohnort verändert?
Nein, weil die Stadt Graz zu klein ist. Ähnlich wie in Groningen oder
Eindhoven in den Niederlanden wagt man sich auch hier nicht, eine Aussage zu
treffen – aus Angst, dafür sofort kritisiert zu werden. Das ist ein Problem.
Auch für die Bebauung der Reininghausgründe im Westen von Graz gab es mehrere Kommissionen,
die aus Angst, sich zu exponieren und kritisiert zu werden, nie weder
Masterplan noch Zeichnungen verlangten.
Ich glaube der grundsätzliche Unterschied in der Mentalität zwischen den
Niederlanden und Österreich lautet: Während man dort Projekte realisiert, um zu
verhindern, dass die Ideen dahinter verlorengehen, verhindert man hier die
Umsetzung von Ideen aus Angst, dass etwas passiert. Das führt zu dem Gefühl, dass
in Österreich nichts möglich ist.
Die TU Graz ist vor allem für ihre
Architekturausbildung und die Grazer Schule bekannt, nicht für einen speziellen
Städtebaudiskurs.
Das stimmt nicht ganz. Hubert Hoffmann, einer meiner Vorgänger als
Institutsleiter und Vertreter der Gartenstadtbewegung, hat sich in den 1960er-Jahren
in seinem Fachgebiet, dem Städtebau, der Protestbewegung angeschlossen. Er
spielte in Graz als Architekt und insbesondere als Stadtplaner eine bedeutende Rolle.
Bei seinem Abschied meinte er, sehr stolz darauf zu sein, was alles in der
Stadtplanung verhindert werden konnte. Das würde man als kritischen Städtebau
bezeichnen. Städtebau war also sehr wohl auch Teil der Grazer Schule.
Hat die Anwesenheit des Städtebauinstituts an der
TU Graz Ihrer Erfahrung nach einen Einfluss auf die Grazer Stadtplanung?
Ja, weil es dadurch nicht so einfach ist, alles in der Stadt zu realisieren
und dadurch auch im Stadtbauamt nachgedacht und diskutiert werden muss, ob etwa
ein Straßenprofil wie üblich aussehen soll oder nicht. Auch Diskussionen wie
die Implementierung eines Shared Spaces in der Herrengasse sind lebendig, wenn
auch momentan noch theoretisch und zum Teil von der Universität initiiert; sie
zwingen die Menschen aber zum Nachdenken.
Ist es denkbar, dass auch Stadtplanung in Zukunft
stärker von der privaten Hand bestimmt werden wird, etwa in Form von PPPs?
PPPs benötigen noch mehr Planung, die man nicht den Privaten überlassen
kann. Unter anderem deshalb, weil private Investoren wirtschaftliche Ziele, die
öffentliche Hand eher politische und allgemein gesellschaftliche Ziele
verfolgt. Auf der anderen Seite geht die Entwicklung wie zum Beispiel der Smart
Citys nicht ohne die Zusammenarbeit mit privaten Energieversorgern und allem,
was dazugehört, vonstatten. Die Stadtplanung wird somit komplexer und integriert
mehr Partner. Durch die Zusammenarbeit mit Privaten können mehr Geldströme
mobilisiert werden. Das geschieht etwa bei den Reininghausgründen. Und da
arbeitet das Städtebauinstitut ganz konkret mit, so wie beim
Stadtentwicklungskonzept Villach. Das sind aber Musterbeispiele, und das gilt
natürlich nicht für alle Städte, aber es sollte für andere Städte als Vorbild
dienen.
Die Partnerschaften im Städtebau werden also
mehr?
Ja. Entscheidend ist, dass es bei solchen Projekten eine Struktur oder
einen Fachbereich gibt – meist öffentliche Einrichtungen –, die Planung und
Debatten koordinieren. Mir ist bei Podiumsdiskussionen oft aufgefallen, dass
gerade Stadtplaner die Kapazität haben, Diskussionen zusammenzufassen und das
Gesagte zu synthetisieren. Ich bin davon überzeugt, dass genau das immer die
Expertise der Städtebauer war und nach wie vor ist.