FORUM – SKIN 01/2015 – Mémorial du camp de Rivesaltes, Rivesaltes/FR


Streng und eindrucksvoll öffnet der größte Patio im Bereich der Unterrichtsräume mit seinem katalanischen Ziegelsteinboden den Blick in den Himmel. © M. Hédelin / Région Languedoc-Roussillon


KARGER MONOLITH IN KARGER LANDSCHAFT

Rund fünfzehn Kilometer außerhalb von Perpignan, im Südwesten Frankreichs liegt die ehemalige Kaserne „Camp de Rivesaltes“ oder „Camp Joffre“. Ganz im Gegensatz zur Süße des „Muscat de Rivesaltes“ zeigt sich diese Landschaft zwischen der Meeresbucht von Salses und den Hügeln des ins Landesinnere ansteigenden Berge von einer trockenen, heißen und steppenartig-kargen Seite.


TEXT MICHAEL KOLLER
FOTOS FRÉDÉRIC HÉDELIN

MAHNMAL DER GESCHICHTE
Das insgesamt 42 Hektar große Lager Rivesaltes wurde 1939 als Kaserne errichtet, was die streng orthogonale Ausrichtung der Baracken rund um den zentral gelegenen langgestreckten Exerzierplatz erklärt. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wechselte diese Militäranlage mehrmals ihre Funktion: ab 1940 wurde die Kaserne zum Auffanglager der vor dem spanischen General und Diktator Francisco Franco geflohenen Republikaner. Mit dem 2. Weltkrieg und der Deportation französischer Juden nach Auschwitz wurden in Rivesaltes ab 1942 zusätzlich ab 1942 zusätzlich Juden, Sinti und Roma und andere „regimfeindliche“ Bevölkerungsgruppen interniert. Nach ihrer Räumung Ende 1942 und bis zur Befreiung durch die Alliierten 1944 wurde die Kaserne zuerst von der deutschen Armee als Militärstützpunkt benutzt und diente in den darauffolgenden Nachkriegsjahren als Kriegsgefangenenlager. Während des Unabhängigkeitskampfes Algeriens 1954−1962 wurde sie erneut französische Militärbasis und Kriegsgefangenenlager.
Ab 1962 wandelte man die Anlage in ein Auffanglager für algerische Muslime und ihre Familien um, die an der Seite Frankreichs gegen die Unabhängigkeit Algeriens gekämpft hatten und auf eine Anerkennung ihres sozialpolitischen Status warteten.

Der permanente Ausstellungsraum. © M. Hédelin / Région Languedoc-Roussillon

REDUZIERTER ENTWURF
1998 initiierte der Generalrat des Departements Pyrénées-Orientales unter der Leitung seines damaligen Präsidenten Christian Burquin die Errichtung eines Gedenk- und Dokumentationszentrums für die zahllosen Menschen und Bevölkerungsgruppen, die im Lager von Rivesaltes interniert waren, und verhinderte damit gleichzeitig dessen geplanten Abriss. Das Projekt erregte in den darauffolgenden Jahren zunehmend internationales Aufsehen, was zur Beteiligung und Zusammenarbeit vieler Organisationen im Gedenken an Kriegsopfer führte. Im Jahr 2000 wurde der Ort dann vom französischen Kulturminister unter Denkmalschutz gestellt.

2005 konnten Rudy Ricciotti und Passelac & Roques Architectes den Wettbewerb zur Errichtung eines Ausstellungszentrums für sich entscheiden, das in Zukunft die wechselhafte und von viel menschlichem Leid gezeichnete Geschichte dieses Ortes dokumentieren sollte. Rudy Ricciotti und Passelac & Roques Architectes entwarfen als Antwort auf die karge, nur mit niederem Buschwerk bewachsene Landschaft und die streng geometrische Anordnung des Bestand an der Stelle des ehemaligen Exerzierplatzes einen ebenso reduzierten wie langgestreckten Baukörper.

Der Monolith wird zum Teil der kargen Landschaft. © M. Hédelin / Région Languedoc-Roussillon

Der vier Meter hohe Monolith mit einer Länge von rund 220 Metern und einer Breite von nur rund 20 Meter verschwindet auf der Südwestseite zur Gänze unter dem Bodenniveau, sodass der Besucher beim Betreten des Geländes nur die Kronen der im größten Patio gepflanzten Bäume sehen kann.

Von diesem Punkt aus wächst der Baukörper durch eine leichte Schrägstellung kontinuierlich aus dem Grund, wobei es an seinem nordöstlichen Ende die Barackengibel nicht überragt. Der als monolithisches Betonvolumen abgebildete einstige Exerzierplatz beschreibt das Höhenrelief der Lagerbaracken, die nach und nach weiter den Verfall preisgegeben werden. Die Seitenwände des Baukörpers besitzen außer den Fluchttüren und den Lieferantenzugängen keinerlei Öffnungen.

Nur wenige Öffnungen durchbrechen die strenge Hülle aus Beton. © M. Hédelin / Région Languedoc-Roussillon

Das gesamte Innere des Gebäudes wird über drei Patios und kleine Dachöffnungen belichtet. Die Öffnung zum Himmel erinnert im metaphysischen Sinne an die einzige im historischen Kontext unbesetzte Perspektive. Die Geschlossenheit nach außen und die Introvertiertheit des gesamten Bauwerks erzeugen Ruhe und bieten die Möglichkeit zur inneren Einkehr, zur Meditation und Besinnung. Für Rudy Ricciotti ist das Bauwerk „ruhig und schwer“ und nimmt sich gegenüber der schwer lastenden Geschichte bewusst architektonisch völlig zurück. Jeder Hof erhält eine unterschiedliche Funktion, Form und Ausstrahlung und ist dementsprechend unterschiedlich gestaltet. Den größten Hof bildet der Patio im Zentrum der Unterrichtsräume, die sich mit raumhohen Verglasungen zu diesem hin öffnen.

Der zweite Patio mit einer Palme, einem Brunnen und einem Wasserbecken ausgestattet, bildet den städtischen Platz und die Terrasse für das Restaurant, während der dritte Lichthof einem privaten Garten gleicht und nur den Büroräumlichkeiten vorbehalten ist. Das Auditorium ist ebenso wie die Ausstellungsräume fensterlos. Das unterstreicht gezielt den Gegensatz zwischen dem dunklen, kühlen, von Licht und Wind geschützten Inneren des Dokumentationszentrums und dem heißen, Sonnenlicht und Wind ausgesetzten Außenraum des Lagers unterstreichen.

Axonometrie

LINEARE ORGANISATION
In dem über 4.000 Quadratmeter großen Gebäude wurden in einer linearen Anordnung zwei Ausstellungsräume von 1.000 Quadratmeter und 400 Quadratmeter für permanente ebenso wie für temporäre Ausstellungen untergebracht. Daneben gibt es noch das Auditorium mit 160 Sitzplätzen, ein Dokumentationszentrum, mehrere Schulungs- bzw. Unterrichtsräume für Schulklassen, sowie eine Boutique und ein Restaurant. Der lange Baukörper wird durch den Zugang, der das Volumen diagonal durchschneidet, scheinbar in zwei Teile gegliedert.

Das am Geländeeingang liegende Gebäudeende wird von den pädagogischen Einrichtungen für die Schulen eingenommen und durch den Eingang vom Rest des Gebäudes getrennt. Das Auditorium und das Restaurant sind direkt vom Foyer aus zugänglich. Die beiden Ausstellungsräume liegen ganz bewusst am Ende eines langen, im Foyer leicht gedrehten Ganges, einer Art Sackgasse in der sich die kommenden und gehenden Besucher kreuzen sollen. Der Zugang zum Verwaltungsbereich erfolgt über den für das Personal vorbehaltenen Gang an der Nordwestseite des Gebäudes, der der funktionellen und technischen Verbindung aller Gebäude dient.

Mit seinem rötlich ockerfarbenen Beton verschmilzt der Bau trotz seiner beachtlichen Länge von 220 Metern förmlich mit der Landschaft. © M. Hédelin / Région Languedoc-Roussillon

MONOLITH AUS BETON
Der Baukörper entspricht einem langgestreckten Betonriegl. Er ist größtenteils nur an der Innenseite gedämmt. Nur im Bereich der Ausstellungsräumlichkeiten besteht die Gebäudehaut aufgrund klimatechnischer Notwendigkeiten aus einer doppelschaligen Betonwand mit Zwischendämmung.

Den Architekten war es wichtig, die rötliche, ockerfarbige Pigmentierung der Betonwände auch im Inneren fortzusetzen, was den Eindruck des Monolithen noch verstärkt. Aus diesem Grund sind auch das Auditorium, die Ausstellungsräume, sowie alle anderen, der Öffentlichkeit zugänglichen Gebäudeteile als ockerfarbene Boxen ausgebildet.

Jeder Hof hat eine unterschiedliche Funktion, Form und Ausstrahlung. © M. Hédelin / Région Languedoc-Roussillon

Die Arbeit Rudy Ricciottis ist durch eine ständige Suche nach neuen, und adäquaten Verwendungsmöglichkeiten von Beton gekennzeichnet. Das zeigte sich bereits in seinen frühen Projekten wie dem Centre Chorégraphique National in Aix-en-Provence, setzt sich aber auch in seinen jüngeren Bauwerken, wie dem MuCEM und dem Musée Jean Cocteau
in Marseille bzw. in Menton fort. Beim Camp Joffre verwenden Rudy Ricciotti, François Roques und Romain Passelac Beton in seiner reinsten, ursprünglichsten und einfachsten Form, was die kompakte, von allen Verzierungen und Reliefs befreite, orthogonale Form des Baukörpers noch verstärkt und ihm den gewünschten zeitlosen und zurückhaltenden Ausdruck verleiht. Durch seine Färbung mit einem rötlichem Ocker, dem lokalen Boden entnommenen Farbpigment verschmelzen die Architekten den Baukörper mit seiner unmittelbaren Umgebung, stellen die Architektur völlig in den Hintergrund und die Aufgabe der Erinnerung ins Zentrum ihres Entwurfs. Die Erde, die gleichsam das Gedächtnis mit der Geschichte des Ortes getränkt ist, wird in Zukunft, auch nach dem völligen Verfall der Baracken, die Erinnerung weitertransportieren.

MEMORIAL DU CAMP DE RIVESALTES
Avenue Christian Bourquin, 66 600 Salses le Château, Frankreich

Architekten: Rudy Ricciotti
Ausführung: Passelac & Roques Architectes
Bauherr: Région Languedoc-Roussillon
Tragwerksplanung: Grontmij
Fassadenplanung: Grontmij
Haustechnik und Elektroplanung: Grontmij
Akkustik: Thermibel
Lichtplanung: Rudy Ricciotti et KOYA Scéno
Baubeginn: 2012
Geplante Fertigstellung: Oktober 2015
Nutzfläche: 3.000 m²
Bruttogrundfläche: 3.150 m²




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