FORUM 09/2014 – STÄDTEBAU – Stadtentwicklung Euroméditerranée, Marseille/FR


Stadtentwicklungsprojekt Euroméditerranée, Marseille: Vogelperspektive
von Norden Richtung Stadtzentrum. Visualisierung: Labtop für Groupement François Leclercq,
architectes, urbanistes/Euroméditerranée.
Groß – Größer – Euroméditerranée
Stadtplanung und die großflächige Entwicklung von Städten wie das in der Umsetzungsphase befindliche Projekt Euroméditerranée in Marseille haben in Frankreich eine lange Tradition. Man erinnere sich nur an Le Corbusiers radikalen Plan Voisin für Paris aus dem Jahre 1925 oder natürlich den kompletten Stadtumbau von Paris nach den Plänen von Georges Eugène Haussmann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.


Text von Michael Koller

Lyon Confluence, La Plaine du Var in Nizza, Boulogne-Billancourt mit der Île Seguin am Stadtrand von Paris, Bordeaux Euratlantique, die Île de Nantes, um nur einige der in Ausführung befindlichen größeren Stadterweiterungsprojekte zu nennen, verändern die Stadtlandschaften französischer Städte und Ballungsräume ebenso einschneidend wie rasch und sind auch dort Zeichen für die zunehmende Verstädterung.
Das zurzeit größte Stadterneuerungs- und Stadterweiterungsprojekt Frankreichs und auch Europas ist Euroméditerranée in Marseille. Über einen Zeitraum von beinahe 40 Jahren werden auf einer Fläche von insgesamt 480 Hektar sieben Milliarden Euro für Wohnen, Arbeiten, Industrie, Verkehrsinfrastruktur, Grünzonen sowie für Freizeit- und Erholungseinrichtungen investiert. 1995 wurde mit der Planung und Umsetzung der ersten Phase von Euroméditerranée begonnen, einem Projekt, das vom französischen Staat, der Region Provence Alpes Côte d‘Azur (Paca), der Communauté Urbaine Marseille Provence Métropole und der Stadt Marseille getragen und mithilfe wichtiger europäischer Subventionen realisiert wird. 


Büroturm CMA CGM, Zaha Hadid Architects © Iwan Baan


STADTENTWICKLUNG IN ZWEI AKTEN
Euroméditerranée hat eine große regionale Bedeutung, da es zur neuen Heimat von zirka 40.000 Menschen werden und Büro-, Geschäfts-, und Gewerbeflächen für 35.000 Arbeitsplätze schaffen soll. Die Stadtrenovierung und -umstrukturierung Marseilles, der ältesten Stadt Frankreichs, ist aber auch von entscheidendem nationalem Interesse. Marseille ist Zentrum einer der ausgedehntesten Ballungsräume und nach wie vor größte Hafenstadt des Landes.

Euroméditerranée umfasst die Renovierung und Umstrukturierung großer Teile des unmittelbaren Stadtzentrums sowie seine Ausdehnung nach Norden durch die völlige Umstrukturierung und Neubebauung des ehemaligen Industriehafens der Stadt. Die für den Hafen künstlich aufgeschütteten Flächen entlang des Wassers wurden durch den Zusammenbruch der wirtschaftlichen Beziehungen mit den nordafrikanischen Staaten und die Auslagerung eines Großteils der Hafenaktivitäten zum petrochemischen Hafen in Fos-sur-Mer obsolet. Übrig geblieben ist der Fährhafen an den Docks der Joliette.

Marseille ist wie viele andere Hafenstädte am Mittelmeer mit dem Problem konfrontiert, dass das Stadtzentrum durch das Meer nur an einer Seite umfahren werden kann. Eine Ringautobahn um den Stadtkern ist aus Platzgründen nicht möglich. Über Jahrzehnte erstickte das Stadtzentrum im Verkehr. Eine Situation, die heute verbessert, aber noch nicht definitiv gelöst ist. Marseille ist zudem auch Endpunkt aller aus den nördlichen, westlichen und östlichen Landesteilen kommenden Straßen. Rund 90 Prozent des gesamten Verkehrsstromes nach und von Marseille führen durch das Gebiet Euroméditerranée. Die Lösung der dadurch entstehenden Verkehrsproblematik bleibt daher ein Schlüsselthema.


Le Silo, Eric Castaldi, CARTA Associes © Lisa Ricciotti

ERSTER AKT
Die erste Phase über ein Gebiet von etwa 310 Hektar wird 2020 abgeschlossen sein. Die Hauptaufgabe dieser Phase lag nicht nur in der Renovierung und Umgestaltung strategisch wichtiger und repräsentativer Straßen, Plätze und Gebäude, sondern vor allem in der Schaffung einer Verbindung zum Neubaugebiet am ehemaligen Industriehafen rund um die historischen Docks.
Das Hauptaugenmerk wurde dabei in die Neugestaltung der gesamten Meeresfront vom Vieux Port über das Fort Saint-Jean an der Einfahrt des alten Hafens bis zum Büroturm der weltweit zweitgrößten Reederei CMA CGM am nördlichen Ende gelegt, um so eine breite, teilweise begrünte und primär den Fußgängern vorbehaltene Promenade zu schaffen. So konnte das Meer auf diese Weise wieder für die Bewohner zugänglich gemacht werden und eine Verbindung zwischen dem Wasser und der Stadt entstehen.


Ilot 34, Rémy Marciano Architecte, CARTA Associes © Serge Demailly

SCHLÜSSELPROJEKTE UND SCHLÜSSELGEBIETE:

1. Der Verkehrsknotenpunkt um den Hauptbahnhof Gare Saint- Charles, der Endstation des Hochgeschwindigkeitszugs TGV aus Paris, Bahnhof für die Regionalzüge sowie Kreuzungspunkt der zwei Metrolinien und nicht zuletzt auch Busbahnhof für alle regionalen und nationalen Buslinien. Wie in vielen anderen Städten sollte das gesamte Bahnhofsgebiet durch den Bau von Wohnungen, Hotels, kulturellen Einrichtungen und die verbesserte Einbindung des benachbarten Universitätsareals aufgewertet und zu einem wirtschaftlichen Zentrum ausgebaut werden.
2. Das Gebiet vom Hauptbahnhof bis zum Vieux Port mit der Canebière und dem dahinterliegenden nördlichen Stadtteil Belsunce sowie dem Einkaufszentrum Centre Bourse und dem Platz um die Porte d’Aix.
3. Die völlige Neugestaltung der Kais um den Vieux Port.
4. Das Dreieck zwischen dem Vieux Port, der Rue de la République bis zum Place de la Joliette und der Hafenfront mit dem ältesten, auf einem Hügel gelegenen Stadtteil, dem Panier, in seiner Mitte.
5. Die Neubebauung des alten Industriegebiets zwischen den restaurierten und umgebauten Docks und der Autobahn in Richtung Norden.


 
Dachgarten Fort Saint-Jean © Serge Demailly

Einhergehend mit der städtebaulichen Aufwertung dieser Gebiete wurden zahlreiche neue Unterflurtrassen für die Autobahnzubringer geschaffen, Tiefgaragen angelegt, die Metrolinien verlängert und eine neue Straßenbahnlinie gebaut. So entstand während der ersten Phase der Stadterneuerung ein sehr heterogenes städtebauliches und architektonisches Ensemble, das durch den bereits bestehenden Straßenraster fest zusammengehalten wird: kleinmaßstäbliche dörfliche Straßenstrukturen wie die des Paniers kontrastieren dabei mit der Architektur der Prachtstraße Rue de la République. Völlig verändert hat sich auch das Erscheinungsbild der Erschließungsstraßen wie des Boulevard de Dunkerque, des Boulevard de Paris oder des Boulevard du Littoral.

 
Esplanade de la Major, Bruno fortier und Jean-Michel Savignat


AUFGEWERTET
Durch die Aufwertung der einzelnen Stadtteile kam es zu einer wesentlichen Erhöhung der Wohnungs- und Mietpreise, was vielfach die Verdrängung der niedrigen Einkommensschichten und der Einwanderfamilien aus dem Stadtzentrum an den Stadtrand zur Folge hatte. Zu wenige Frei- und Grünflächen sowie Kinderspielplätze in der unmittelbaren Umgebung der Wohnblöcke bremsen die Ansiedlung von Familien der Mittelschicht. Beim Durchwandern des Gebiets entsteht allgemein der Eindruck, dass dieses Areal nach wie vor keine Identität besitzt und die Parzellen viel zu dicht bebaut wurden. Architektonisch kann man seit Beginn der Arbeiten Ende der Neunzigerjahre eine deutliche Qualitätsverbesserung der einzelnen Projekte beobachten.

Es geht dabei nicht in erster Linie um die Realisierung modernerer Architekturen und einer Bereicherung der verwendeten Bautechniken und Baumaterialien, sondern vor allem um eine Vervielfältigung der angebotenen Wohnungstypen und eine bessere Durchmischung der Funktionen innerhalb der Wohnblöcke. Das zeigt sich beim in der Umsetzung befindlichen Viertel Le Parc habité. Dort soll bis 2018 neben einer Universität und Geschäfts- und Gewerbeflächen vor allem Wohnraum mit Eigentums-, Miet- und Studentenwohnungen aller Preisklassen und Größen entstehen, damit auch junge Menschen Zugang zum Wohnungsmarkt bekommen. Außerdem sollen Altenwohnungen, Institutionen für betreutes Wohnen, Restaurants und Ateliers entstehen, um damit ein lebendiges, buntes Wohnviertel zu kreieren.

Die Ernennung und Durchführung der europäischen Kulturhauptstadt 2013 „Marseille Provence 2013 (MP13)“ wurde zu einem wichtigen Motor, um die Projekte und Arbeiten voranzutreiben, größtenteils aus purer Notwendigkeit, teilweise um das Image der Hafenstadt zu verbessern.


Einer der zwei großen neuen Parks der zweiten Phase, der Parc Bougainville.
Visualisierung: Labtop für Groupement François Leclercq, architectes, urbanistes /
Euroméditerranée

ZWEITER AKT
2009 gingen das Planungsteam um den Architekten und Stadtplaner François Leclercq, das Landschaftsarchitekturbüro Agence TER, die Marseiller Architekturbüros Rémy Marciano und Jacques Sbriglio und das multidisziplinäre Ingenieurbüro Setec aus dem von Euroméditerranée ausgeschriebenen Wettbewerb für die zweite Phase hervor.

Im Zentrum des vorgestellten Entwurfs liegt der 15 Hektar große Parc des Aygalades um den momentan überplatteten Fluss Aygalades, der bei starken Regenfällen auch als Regenwasserrückhaltebecken fungieren soll. Im Gegensatz zur ersten Phase soll Grün in allen Formen viel stärker ins Zentrum des Straßenraums, aber auch in die Bebauung der einzelnen Parzellen rücken.

Das umfangreiche Programm für dieses neue Stadtviertel direkt am Meer sieht neben der Schaffung von 14.000 neuen Wohnungen für rund 30.000 Bewohner 500.000 Quadratmeter Büro und Gewerbeflächen und 100.000 Quadratmeter für öffentliche Einrichtungen vor. Die Erschließung mit den öffentlichen und individuellen Verkehrsmitteln ist auch hier zentral. Die momentan noch auf einem Viadukt über das Gebiet schwebende Autobahn soll in der Böschung des höhergelegenen Stadtteils Les Arnavaux verpackt werden, um somit gleichzeitig eine mehrere Meter über dem Meeresniveau gelegene Promenade und Stadtterrasse zu gestalten, die einen weiten Ausblick über die gesamte Bucht von Marseille zulässt.


Îlot 2B ZAC «Cité de la Méditerranée». Visualisierung: Yam Studio

Die Gefahr solcher großangelegten Projekte in Marseille besteht allerdings in der politischen Trägheit und Fantasielosigkeit, der sich seit Jahren an der Macht befindenden, konservativen Regierung und ihrer Angst vor Veränderungen. Traditionsgemäß gibt es in Marseille außerdem einen stark entwickelten und mit Hingabe gepflegten Widerstand der Bewohner gegen alle von der Regierung initiierten Pläne. Die zu Recht ambitiösen stadtplanerischen Ziele der Bauherren können nur dann erreicht werden, wenn sie mit viel pädagogischer Überzeugungsarbeit und dem nötigen Respekt gegenüber den Charakteristika von Marseille umgesetzt werden.


Projekte (Auswahl)
Stadtgebiet: Joliette
- Restaurierung, Um- und Ausbau der Docks (1992–2002)
- Neugestaltung des Place de la Joliette, Chatenet – Speeg (1998 + 2013)
- Le Fond Régional d’Art Contemporain – FRAC (Fertigstellung 2013), Kengo Kuma
- Tiefgarage und Neugestaltung des Places d’Arvieux (Fertigstellung 2009), Atelier du Prado (Perez Architecte) / Bet Arcadis

- Tiefgarage und Neugestaltung des Place d’Espercieux (Fertigstellung 2008), Battesti Architecte / Egis aménagement

Stadtgebiet: Saint-Charles
- Centre de Conservation et de ressources (CCR) des MuCem (Fertigstellung 2012), Corinne Vezzoni & Associés

Stadtgebiet: Vieux Port
- Vieux Port (Fertigstellung 2013), Michel Desvigne, Foster + Partners, Tangram Architectes, Ingérop
- Intercontinental Hotel-Dieu (Fertigstellung 2013), Tangram Architectes
- Einkaufszentrum Centre Bourse (Fertigstellung 2014), Agence Moatti – Rivière
- Musée d’Histoire de Marseille (Fertigstellung 2013), Carta Associés

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