FORUM 10/2014 – INTERVIEW – Wiel Arets, Amsterdam/NL



Wiel Arets © Jan Bitter

Unbeirrbar optimistisch
Während der Bausektor in den Niederlanden nach wie vor von der schweren Wirtschaftskrise gezeichnet ist, entwickelt Wiel Arets in seiner Funktion als Dekan der Architekturfakultät des Illinois Institute of Technology (IIT) Visionen einer zukünftigen Stadt.


Michael Koller im Gespräch mit Wiel Arets

Es ist auffallend, dass Sie in den vergangenen Jahren sehr viele Großprojekte wie zum Beispiel jene in Rotterdam, in Den Haag, Eindhoven, aber auch in der Schweiz fertiggestellt haben, während zahlreiche Ihrer niederländischen Kollegen aufgrund der anhaltenden Krise im Bausektor beinahe in Konkurs gegangen sind. Was ist Ihr Geheimrezept, um in dem Umfeld zu bestehen?
Welche Krise? Krise ist Nonsense! Es ist immer die Frage, woran man etwas misst! Womit geht es gut, womit geht es schlecht? Entscheidend ist für mich, dass ich mich mit den Dingen beschäftige, die ich auch selbst kontrollieren und steuern kann. Es erscheint mir wichtiger, sich auf den Fortschritt in der Welt zu konzentrieren als auf all die Dinge, die nicht ideal funktionieren.
Wir befinden uns in einer Zeit, in der sich sehr viel verändert und in der so viele neue Entwicklungen geschehen. Wenn man auf die vergangenen hundert Jahre zurückblickt, sieht man, welche Fortschritte wir in diesem Zeitraum gemacht haben und wie sich unser Wohn- und Lebenskomfort verbessert hat. Ich glaube an den Fortschritt unserer Gesellschaft. Man muss die Dinge immer in einem größeren Rahmen betrachten.
Momentan gibt es einfach sehr viele Menschen, die ein viel zu negatives Bild der Baubranche und der weltweiten Wirtschaft projizieren. Ich bin ein Optimist.

Die Wirtschaftskrise gibt es also nicht?
Natürlich gibt es Menschen, die Probleme haben, aber die muss man dann auch gesondert, im Detail, betrachten.

Wenn man Ihre Arbeit und Ihren Werdegang betrachtet, fällt Ihr sehr breiter Zugang zur Architektur auf. Woher kommt der?
Ich bin sicherlich schon sehr früh durch die Arbeit meiner Mutter als Modedesignerin und meines Vater als Buchdrucker beeinflusst worden. Ich kann mich erinnern, dass ich schon als Kind immer viel getan habe, viel Fußball gespielt und gelesen habe und generell immer am Funktionieren der Dinge um mich herum interessiert war.

Aber wie kam es zu der Entscheidung, Architektur zu studieren?
Neben meiner Leidenschaft für Fußball war ich als Jugendlicher sehr an den Erkenntnissen der Naturwissenschaften und an den Entwicklungen in der Technik interessiert. Nach einem kurzen Ingenieursstudium schienen mir Architektur und Städtebau die beiden Fächer zu sein, in denen ich mein Interesse für die Technik, die gesellschaftlichen Entwicklungen und Philosophie am besten vereinen konnte.

Was ist Architektur für sie?
Entwerfen, Bauen, Lernen, Unterrichten, Schreiben oder eben auch Interviews zu geben sind Teil meines Lebens und untrennbar miteinander verbunden. Architektur ist für mich nicht nur ein Geschäft, um Geld zu verdienen, es ist Teil eines Ganzen; es ist mein Leben. Das ist meine Grundhaltung, von der ich mich in allem, was ich tue, lenken lasse.

Man bekommt den Eindruck, dass sie schlichtweg an allem interessiert sind.
Interesse und Neugierde entstehen meiner Meinung nach durch die Arbeit an unterschiedlichen Orten und Kulturen. Ich komme aus Limburg, einer Region im Südwesten der Niederlande, die in unmittelbarer Nachbarschaft zu Deutschland, Belgien und Frankreich liegt. Ich wurde zu einer Zeit geboren, als die Bergbauindustrie dort in ihrer Hochblüte stand. Die Industrie zog Menschen aus ganz Europa an, wodurch ich in einem sehr internationalen Umfeld aufgewachsen bin. Später begann ich auch oft zu reisen, wodurch ich viele neue Dinge gesehen, erlebt und viele interessante Menschen kennengelernt habe. Das hat mich wiederum in meiner Arbeit stimuliert.

Wie bei kaum einem anderen praktizierenden Architekten sind der Unterricht und die Arbeit an Universitäten ein wesentlicher Teil Ihres Lebenslaufs. Wie wichtig ist für Sie das Verbinden der Unterrichtstätigkeit mit Ihrer alltäglichen Büropraxis?
Alles, was ich mache, sei es nun Entwerfen, Bauen, Unterrichten oder Schreiben, dient dem Wissensgewinn und ist Teil einer gesamten Entwicklung. Dieses Interesse, diese Begeisterung für Dinge gilt für meine Arbeit als Architekt im Architekturbüro genauso wie für meine Arbeit als Universitätsprofessor. Sie ist essenziell für meine persönliche Entwicklung.

Architektur ist für mich nicht nur ein Geschäft, um Geld zu verdienen, es ist Teil eines Ganzen. Es ist mein Leben. 

Und wie kamen Sie zum Unterrichten?
Das ging fast automatisch: Durch meine ersten Untersuchungen und Publikationen zu F.P.J. Peutz, einem sehr bedeutenden Architekten in Heerlen, verbrachte ich viel Zeit in den Bibliotheken, wurde Mitherausgeber einer Studentenzeitschrift, organisierte Studienreisen und Ausstellungen und lud bekannte Architekten zu Vorträgen ein. Parallel zu meiner Ausbildung an der TU Eindhoven begann ich, an Wettbewerben mitzumachen, wodurch ich wiederum bei einer Ausstellung im Rahmen der Biennale in Venedig mitmachen konnte. Später erhielt ich die Möglichkeit, an der Kunstakademie in Amsterdam und Rotterdam zu unterrichten. So wuchs ich kontinuierlich in die Unterrichtswelt hinein.

Sie haben fünf Jahre an der Architectural Association (AA) in London unterrichtet.
Meine Unterrichtstätigkeit im Rahmen des Diploms „Unit One Master“ an der AA in London war tatsächlich ein entscheidender Maßstabssprung, weil ich damals mit Leuten wie Alvin Boyarski, einem sehr besonderen Mann, von dem ich viel gelernt habe, in Kontakt kam. Durch die Unterrichtstätigkeit und die Möglichkeit, mein Wissen und mein Interesse in den Unterricht einzubringen, konnte ich mich auch selbst weiterentwickeln.

Die heutige Arbeit als Dekan an der Architekturfakultät des IIT in Chicago ist für Sie nun aber wirklich eine neue, große Herausforderung, oder?
Für mich ist jeder Tag eine neue Herausforderung. Auch die Leitung des Berlage-Instituts war eine Herausforderung.

In Ihrer Funktion als Dekan und Professor waren und sind Sie nach wie vor für die Ausbildung junger Architekten verantwortlich. Welche Rolle wird Ihrer Meinung nach der Architekt in der Zukunft spielen?
Eine völlig andere. Der Architekt muss in erster Instanz sein Metier kennenlernen.

Aber wie wird sein Metier in Zukunft aussehen? Worauf muss man die neue Architektengeneration vorbereiten?
Der Architekt war früher in gewisser Weise der Denker, der Lösungen für ein bestimmtes Problem fand. Heutzutage ist es nicht mehr ausreichend, den Architekturstudenten beizubringen, was eine Backsteinmauer oder eine Holzkonstruktion ist und wie diese auszusehen hat. Ähnlich wie in der Medizin wird die Zusammenarbeit des Architekten mit verschiedensten Partnern und Spezialisten in der Zukunft eine noch viel größer Rolle spielen, um die Komplexität von Bauwerken meistern zu können. Darauf müssen die Universitäten und anderen Ausbildungsstätten die zukünftige Architektengeneration vorbereiten und dahingehend ausbilden. Sie müssen den Studenten beibringen, wie sie nach Antworten suchen müssen und zu Lösungen kommen können.

Und wie versuchen Sie dies konkret zu erreichen?

An der Cooper Union unter der Leitung von John Hejduk und der Columbia University habe ich genauso wie am Berlage-Institut in Amsterdam immer versucht, eine Studien- und Arbeitsatmosphäre einzuführen, in der die Studenten sich selbst entfalten und auch nach ihren eigenen Interessen forschen können.

Wie sehen Sie Ihre Funktion als Dekan an der IIT?
Auch Mies van der Rohe kam als europäischer Architekt mit einem dementsprechenden kulturellen Hintergrund dorthin. Er benutzte das IIT auch, um dort Untersuchungen und Nachforschungen anzustellen und über Architektur nachzudenken. Man kann wohl sagen, dass viele der von ihm in Chicago realisierten Gebäude eigentlich gedanklich am IIT entstanden sind. Ich sehe meine Funktion dort nicht als die eines Verwalters, sondern als die eines Architekten, der seine Erfahrung aus dem europäischen Kontext einbringt und ein Arbeitsumfeld kreiert, in dem sich andere Menschen entwickeln können.

Welche Krise? Krise ist Nonsense! Es ist immer die Frage, woran man etwas misst! Womit geht es gut, womit geht es schlecht? Entscheidend ist für mich, dass ich mich mit den Dingen beschäftige, die ich auch selbst kontrollieren und steuern kann. 

Welche Herausforderungen stellen sich für die jungen Architekten?
Wir können keinen Unterschied mehr zwischen Decke, Wand, Dach, Klimatisierung, Fassade machen. All das muss gemeinsam gedacht und bedacht werden. Technisch sind wir heute imstande, beinahe alle Wünsche zu erfüllen. Die Frage ist nur, mit welchem Ziel wir das tun und ob diese Wünsche tatsächlich erstrebenswert sind. In gewisser Weise müssen wir lernen, die gestellte Frage oder die Aufgabe gut zu analysieren und zu hinterfragen – Rethinking Metropolis.

Was bedeutet das?
Zuerst denken. Denken heißt einen Dialog, eine Philosophie zu entwickeln, einen Standpunkt einzunehmen, Entscheidungen zu treffen und sich der Unterschiede bewusst zu sein.

Aber das haben schon viele Menschen vor Ihnen getan?
Rethinking Metropolis bedeutet, dass wir nicht davon ausgehen dürfen, bereits alles über die Stadt zu wissen, darüber, was sie ist, wie sie funktioniert und wie sie sich entwickeln wird. Wir stehen meiner Meinung nach vor enormen infrastrukturellen und technischen Entwicklungen, die unsere Städte stark verändern werden.

Ein Beispiel?
Ich gehe zum Beispiel davon aus, dass es in zehn Jahren in den Städten keine Autos im heutigen Sinne mehr geben wird. Ich könnte mir vorstellen, dass es dann ein Art Taxiservice ohne Chauffeur geben wird, das über eine Art iPhone bestellt werden kann und das ich entweder zum Lesen, Arbeiten oder zum Fahren bestellen kann. Alle Autos, die nun oft Tage und wochenlang unbenutzt in den Straßen stehen, wären dann überflüssig, Parkplätze und Tiefgaragen könnten umgenutzt werden, die Straßenräume könnten anderen Funktionen dienen.

Und im Bereich der Architektur und des Bauens?
Das größte Problem des Bauens ist momentan, dass die Errichtung eines Gebäudes beinahe doppelt so viel Energie benötigt (vor allem mit den zusätzlichen wärmetechnischen Auflagen), als wir während seines rund 60-jährigen Lebenszyklus hineinstecken. Wir müssen nach Wegen suchen, um dieses Dilemma zu lösen. Es wird die Architektur und die Nutzung von Bauwerken in der Zukunft entscheidend verändern. Auffallend ist, dass sich zurzeit scheinbar niemand dieser Frage annimmt.

Im Zuge des großen Baubooms der Neunzigerjahre und zu Beginn dieses Jahrhunderts kam es in den Niederlanden zu einer immer stärkeren Spezialisierung und Differenzierung in der Baubranche, die dazu führte, dass der Architekt vielfach nur mehr zum Entwerfer wurde. Nun gibt es wieder gegenteilige Tendenzen. Wie sehen Sie das?
Ich glaube, dass der Architekt in den gesamten Entwicklungs- und Bauprozess eines Projekts involviert sein sollte, selbst wenn er eine bestimmte Anzahl von Verantwortlichkeiten an Partner abgibt. Wenn er nicht von A bis Z bei der Realisierung eines Bauwerks beteiligt ist, besteht die Gefahr, dass das Gebäude seine räumliche oder materielle Qualität verliert. Das bedeutet nun nicht, dass der Architekt die absolute Weisheit gepachtet hat, sondern, dass er dafür verantwortlich ist, Spezialisten ins Team zu holen, die zu einer Qualitätsverbesserung der Bauteile und des gesamten Bauwerks beitragen können.

Der Architekt als Teamspieler also, so wie im Fußball?
Ein Architekt kann nicht die gesamten Möglichkeiten von Glasprodukten oder Kompositmaterialien, die wir selbst in unseren Projekten häufig anwenden, kennen. Er hat Spezialisten notwendig, die ihm die Potenziale dieser Produkte erklären und sie zusammen mit dem Architekten weiterentwickeln. Umgekehrt benötigt der Spezialist wiederum den Architekten, um zu wissen, ob das Produkt den Erwartungen und dem gesamten Gebäude entspricht. Das Gleiche gilt für das Funktionieren der Zusammenarbeit mit Bauherren oder Direktoren öffentlicher Einrichtungen, was man an den Qualitätsunterschieden innerhalb der Bauten ein und desselben Architekturbüros oft gut ablesen kann: Man kann ein noch so guter Architekt sein, wenn der Auftraggeber, das Team und alle involvierten Parteien nicht die gleiche Energie und dieselben Ansprüche in die Aufgabe stecken, wird auch das Gebäude nicht gut.

Architektur & BauFORUM

Wiel Arets Architects (WAA)

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