FORUM – SKIN 10/2016 – Crystal Houses, Amsterdam/NL



Beim Crystal Houses verbanden MVRDV modernste Glasbautechnik mit traditionellem Backsteinbau, um eine Geschäftsfassade mit maximaler Transparenz zu schaffen © Daria Scagliola & Stijn Brakkee

Glanzvolle Transparenz
Die P. C. Hooftstraat – benannt nach dem niederländischen Historiker und Dichter Pieter Corneliszoon Hooft – ist die teuerste Shoppingstraße der Niederlande. Sie liegt in Amsterdam, außerhalb des Grachtenviertels, in unmittelbarer Nähe des Vondelpark und unweit des Museumplein. Hier reiht sich in der von klassischen Amsterdamer Giebelfronten dominierten Straße ein internationaler Flagshipstore an den nächsten.

Text Michael Koller

Für die Neugestaltung des hier angesiedelten Shops des Luxslabels Chanel sollten zwei alte Häuser durch zwei neue, etwas höhere Gebäude, die das Amsterdamer Architekturbüro Gietermans & Van Dijk für den Bauherrn Warenar Real Estate entwickelt hatte, mit klassischer Amsterdamer Backsteinfassade ersetzt werden. Allerdings war der Bauherr mit der Architektur und Ausstrahlung des genehmigten Neubaus nicht wirklich zufrieden. Ihm schwebte ein Gebäude mit Mehrwert vor, das mit den charakterlosen, meist in einem historisierenden Stil nachgebauten Backstein-Reihenhäusern mit ihren ebenerdigen Schaufenstern brechen sollte. Auf der Suche nach einer neuen, innovativen Idee kontaktierte Warenar deshalb MVRDV, mit denen man bereits an anderen Projekten zusammengearbeitet hatte.

Von der Seite gesehen, verliert die Fassade zum Teil ihre Transparenz © Daria Scagliola & Stijn Brakkee

VORBILDPROJEKT MIT AUSSTRAHLUNG
Die Herausforderung für MVRDV bestand darin, ein Gebäudeelement rund um den Neubau zu entwickeln, das die traditionellen Amsterdamer Backsteinhäuser mit zeitgenössischer Architektur verbindet, Modernität und Luxus ausstrahlt und außerdem auch noch über maximale Transparenz der Auslagenfront verfügt, ohne dennoch austauschbar und charakterlos zu sein.
Nach ersten Tests mit Materialien wie Polycarbonat, gefärbtem Triplex oder Gießharz entschied man sich schließlich, das Potenzial von Glasziegeln als Baustoff für die neue Straßenfront genauer zu untersuchen, da man damit dem Bau einer traditionellen Backsteinfassade am ehesten zu entsprechen meinte. Die Intentionen des Bauherrn und der Architekten stießen bei der städtischen Stadtgestaltungs-Kommission auf große Resonanz, mit der Auflage, im Obergeschoß Wohnungen vorzusehen.

Vor allem für den Übergang zwischen Glas- und Tonziegel und die Fensterrahmenanschlüsse mussten etliche Ziegel mit Sondermaßen gegossen werden © MVRDV

KEINEN MILLIMETER SPIELRAUM
Nach der Prüfung verschiedener bereits auf dem Markt erhältlicher Produkte entschloss man sich, die Machbarkeitsstudien zusammen mit dem Glashersteller Vetreria Resanese aus Treviso Italien, der TU-Delft und dem niederländischen Büro ABT als Tragwerksplaner voranzutreiben. Die Herausforderungen waren vielfältiger Natur:
   • Wie kann man die handgemachten, einzigartigen Glasziegel mit all den gewünschten, visuellen Unregelmäßigkeiten, wie eingeschlossene Bläschen oder Faser, etc. in großer Auflage – insgesamt wurden letztlich 7.000 Glasziegel hergestellt – mit identischen Abmessungen produzieren?
    • Welcher Klebstoff, der sich auch unter Sonneneinstrahlung nicht verändert, muss für die Verbindung wie und wo aufgebracht werden?
    • Und wie kann man die Mauer letztlich vor Ort errichten?

Fensteranschluss © MVRDV

Von der insgesamt rund dreieinhalb Jahre dauernden Projektdauer (von der ersten Idee bis zur Fertigstellung) wurden zirka eineinhalb Jahre für das Finden und Entwickeln der passenden Glasziegel, des geeigneten Klebstoffs und des entsprechenden Produktionsprozesses benötigt. Entstanden sind die beiden „Crystal Houses“ mit einer soliden, 21 Zentimeter dicken Hülle aus Glasziegeln mit einem Gewicht von etwa 2.500 kg/m³, die über Dehnfugen an den Seiten und an der Oberkante an die benachbarten Gebäudeteile angeschlossen wurde.
Bei der Produktion der Glasziegel bestand die Kunst darin, herauszufinden, wie oft die Glasziegel bis zu welcher Temperatur erhitzt, wie lange sie gebrannt und mit welcher Geschwindigkeit sie abgekühlt werden müssen, um zu verhindern, dass es zur Kristallbildung kommt, dass die Ziegel brechen oder dass das Glas während des Abkühlens zu stark schrumpft. Um die leichten Mulden, die sich während des Abkühlprozesses an der Oberseite bildeten wegzubekommen, entschied man sich schließlich dafür, die Ziegel größer zu gießen und anschließend mit einer CNC-Maschine auf die exakte Größe zuzuschneiden und zu polieren. Alle Glasziegel wurden sowohl bei Vetreria Resanese als auch an der TU-Delft an fünf Punkten auf ihre exakte Dicke gemessen, bevor sie zur Verwendung freigegeben wurden.


Jeder Glasziegel wurde in Resana handgegossen © Poesia

Mit dem Klebstoff Delo wurde ein Produkt gefunden, das aufgrund seiner Bindefähigkeit, Härte, Lichtdurchlässigkeit und seinem Widerstand gegen Verfärbung unter UV-Licht- Einwirkung den Qualitäten der Glasziegel entsprach. Um eine optimale Haftungsfähigkeit zu entwickeln, durfte er allerdings nur in einer Dicke von 0,25 Millimeter aufgetragen werden, wodurch es de facto keinen Spielraum für Ungenauigkeiten bei der Dicke der Glassteine geben durfte.

BAUSTELLE ALS LABORATORIUM
Aufgrund des fehlenden Spielraums musste auch beim Bau der Mauer mit größter Präzision vorgegangen werden. Zu Beginn der Bauarbeiten an der Glasfassade war der Rest des Gebäudes bereits durch Gietermans & Van Dijk fertiggestellt worden. Die Backsteinfassade des Wohngeschoßes über dem Geschäft wurde von einer Stahlbalkenkonstruktion abgehängt und ließ darunter eine etwa elf Meter lange und neun Meter hohe Fassadenöffnung frei.


Die Baustelle glich einem Laboratorium © MVRDV

Die mit weißen Planen abgedeckte Baustelle ähnelte einem Laboratorium, nicht zuletzt, da man eigentlich keine Erfahrung mit dem Bau einer derartigen Fassade hatte. Aus Sicherheitsgründen wurde die Glasfassade auf einem hinter Glasplatten verborgenen Betonsockel aufgebaut, wobei eine mit Stellschrauben versehene Edelstahlplatte für eine exakte Horizontalität sorgt. Zu Beginn der Arbeiten konnte das aus vier Arbeitern bestehende Team nur zwischen 50 und 60 Ziegel pro Tag versetzen.
Nicht nur das Reinigen der Glasziegel, sondern auch das Aufbringen des Klebstoffs mittels einer speziell von der TUDelft entwickelten Matrize, die eine ungleichmäßige Verteilung und Überläufe des Klebstoffs verhinderte, kosteten viel Zeit. Die stehenden Fugen wurden nicht verklebt, weil der Klebstoff an den Unterkanten der Glasziegel zusammengeronnen wäre. Nach dem Anlernen eines zweiten Teams beschleunigte sich allerdings der Bauprozess. Da kein geeigneter Klebstoff zur Verbindung der Glasziegel mit den Tonziegeln für den Übergangsbereich gefunden werden konnte und das Verhalten der beiden Materialien unter Wärme- bzw. Kälteeinwirkung unterschiedlich ist, entschloss man sich schließlich, auch hier die Backsteine aus Glas zu fertigen. Um den Eindruck von Backsteinen zu erzeugen, wurden auf die etwas mehr beschnittenen Glasziegel Verblendungen aus Tonziegeln geklebt.

Die Glasziegel wurden auf der Baustelle unter UV-Licht miteinander verklebt © MVRDV 

Die glänzende Glasfassade wird mittlerweile unweigerlich mit der Marke Chanel und deren Produkten assoziiert. Paradox dabei scheint dann doch, dass Chanel vorhat, dieses Geschäftslokal lediglich für die Dauer der Umbauarbeiten des nahen, in derselben Straße gelegenen, eigenen Flagshipstores als temporärer Mieter zu nutzen.

PROJEKTDATEN
Crystal Houses, Amsterdam, NL

Bauherr: Warenar Real Estate, Amsterdam/NL (http://warenar.eu)
Architektur: MVRDV: Winy Maas, Gijs Rikken, Mick van Gemert, (Renske v/d Stoep), Rotterdam/NL (www.mvrdv.nl)
Gietermans & Van Dijk: Wim Gietermans, Arjan Bakker, Tugrul Avuçlu, Amsterdam/NL (www.gietermans.nl)
Forschungsarbeit TU-Delft: Frederic A. Veer, Faidra Oikonomopoulou, Telesilla Bristogianni
Tragwerksplanung: Brouwer & Kok - Gebäude (www.brouwer-kok.nl) / ABT - Glassteinfassade (www.abt.eu)
Nutzflächen: 620 m² Geschäftsfläche, 220 m² Wohnfläche
Fertigstellung: April 2016
Hersteller Glasziegelsteine: Vetreria Resanese, Resana/IT (www.spaziopoesia.it, www.vetreriaresanese.it)
Produkt Glasziegel: POESIA® (Marke: Vetreria Resanese)
Glasstein-Kleber: Delo Industrie Klebstoffe GmbH & Co, Offenbach/DE (www.delo.de)

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