FORUM 04/2016 – INTERVIEW – Manuelle Gautrand, Paris/FR


Manuelle Gautrand © Joëlle Dollé

Eine Frage der Wahrnehmung
Manuelle Gautrand kann in ihrem Curriculum auch auf einen Aufenthalt in Österreich verweisen, im Studienjahr 2008/2009 leitete sie das Entwurfsstudio „aspern City“ für Masterstudenten an der TU Wien. Seit damals ist es ihrem Pariser Büro gelungen, eine Vielzahl von Projekten in Frankreich, aber auch im Ausland zu realisieren. Neben dem erst kürzlich fertiggestellten Sport- und Kulturzentrum in Saint-Louis machte sie in den vergangenen Wochen durch den Sieg des Wettbewerbs für das neue Gemeindezentrum in Parramatta, Australien, international auf sich aufmerksam.

Michael Koller im Gespräch mit Manuelle Gautrand

Schon bei Ihren frühen Projekten, wie beim Multiplex „Le Fellini“ in Villefontaine oder den Überdachungen der Autobahnmautstellen entlang der A16, kann man die Suche nach komplexen Formen und Strukturen sowie die gezielte Verwendung vielfältiger unterschiedlicher Materialien und Farben erkennen. Wie erklärt sich das?
Ich habe mich schon immer für vielschichtige und gemischte Raumprogramme interessiert und bin davon überzeugt, dass die Architektur eines Gebäudes diese Vielfalt auch ausdrücken sollte. Die Architektur eines Bauwerks sollte aber nicht nur das Raumprogramm widerspiegeln, sondern ein Art Echo des Ortes sein, an dem sie sich befindet: indem sie sich mehr oder weniger delikat in den Kontext einfügt oder mehr oder weniger stark mit diesem kontrastiert. Wie dem auch sei, Architektur muss den Ort aufwerten, ihn lebendiger machen und zu seiner Entwicklung beitragen.

Worauf ist das Aufbrechen der Volumen in kleinere Teile zurückzuführen?
Wir arbeiten in der Tat oft an Projekten, deren Programme große Volumen erfordern. Bei den meisten Bauvorhaben sind die Grundstücke aber sehr klein, liegen in einem dichten, heterogenen städtebaulichen Kontext oder befinden sich in einem Umfeld, in dem Bauten ganz unterschiedlicher Maßstäbe aufeinandertreffen. Dann versuchen wir, die Baukörper zu fragmentieren, einerseits, um sie in die Umgebung einzugliedern, und andererseits, um die verschiedenen Funktionen im Inneren erkennbar zu machen.

Auffallend ist vor allem Ihr Interesse an der Fassade. Es scheint so als wollten Sie mit der Gebäudehülle immer wieder die Größe der Bauvolumen optisch brechen.
Die Hülle eines Bauwerks repräsentiert für mich gewissermaßen die Schnittfläche und den Filter zwischen innen und außen: Sie ist die letzte Schicht des Projekts, die dieses von seiner unmittelbaren Umgebung trennt, dem städtebaulichen Kontext. Für mich hat die Hülle zwei wesentliche symbolische Funktionen: Sie muss einerseits die Geschichte des Innenraums erzählen, andererseits muss sie aber auch einen Dialog mit dem Kontext eingehen. Gerade aufgrund dieser Funktion als Filter zwischen innen und außen liebe ich es, an der Fassade eines Entwurfs besonders aufmerksam zu arbeiten. Je nach Situation versuche ich, diesen Filter mehr oder weniger offen, transparent, diskret oder überladen zu gestalten. Die Fassaden spielen daher eine zentrale Rolle in der Planung.

Es entsteht bei genauer Betrachtung Ihrer Projekte der Eindruck, als würden Sie die Außenhülle so konzipieren, um die Wahrnehmung des Bauwerks zu verändern und es in eine Art Skulptur zu verwandeln.
Die Konzentration auf die Fassade ist für mich ein Mittel, um mit Architektur in all ihren Maßstäben zu arbeiten: auf der einen Seite von der Distanz aus gesehen, also auf städtebaulicher Ebene, auf der anderen Seite auf einer kleinen, menschlichen Ebene, etwa aus der Position in unmittelbarer Nähe zum Objekt. Ein Entwurf muss mit den verschiedenen Wahrnehmungsmaßstäben arbeiten: Aus der Entfernung muss das Gebäude eine einfache, klare, beinahe skulpturale Form erzeugen, zum Teil der Skyline werden, während es aus der Nähe mit einem viel kleineren, einem menschlichen und taktilen Maßstab arbeiten muss. Dementsprechend müssen auch die Elemente an der Fassade – wie Farbe, Transparenz, Textur und Oberfläche etc. – aus der Entfernung betrachtet eine übergeordnete, deutlich ablesbare Vision ausdrücken, während sie aus der Nähe viel sensibler ausgearbeitet sein müssen und auch andere Emotionen und Assoziationen auslösen sollten.

Für mich gibt es nichts Schöneres, als ein baukulturelles Erbe durch zeitgenössische Architektur zur Geltung zu bringen und wieder zum Leben zu erwecken.

Der Bau und die Erweiterung des Theaters „Le Palace“ in Bethune ist wohl hierfür ein gutes Vorbild, oder?
Beim Theaterprojekt in Bethune wollte ich ganz bewusst zu den zwei verschiedenen Epochen, in denen das Ensemble entstanden ist, Stellung beziehen. Die Erweiterung, ein einfaches, schwarzes Volumen, musste ebenso wie der Bau des Theaters 1999 mit sehr geringen finanziellen Mitteln realisiert werden. Durch das Werk von Pierre Soulages wurde ich auf den Reichtum von Schwarz aufmerksam gemacht und auf dessen Kapazität, das Sonnenlicht zu absorbieren. Die Fassaden des Zubaus sind mit Metallplatten verkleidet, die gedreht zueinander montiert wurden, einmal matt, dann wieder glänzend. Durch diese Anordnung und den Wechsel zwischen matt und glänzend entstehen unterschiedliche optische Tiefen und der Effekt eines gewebten Stoffes.

Bei vielen Ihrer Projekte, ich denke hier vor allem an das erst kürzlich fertiggestellte, multifunktionale Sport- und Kulturzentrum in Saint-Louis, werden die Fassaden zu einer vielfältigen Dachlandschaft, als würden Sie keinen Unterschied zwischen Fassade und Dach machen.
Unter den verschiedenen Dachflächen verbergen sich die zwei großen und hohen Volumen der Sporthalle und des Festsaals, die für unterschiedliche Festivitäten und Ereignisse kombiniert genutzt werden können. Das Gebäude steht inmitten einer heterogen zusammengewürfelten Bebauungsstruktur zwischen Mehrfamilienhäusern, Industriegebäuden und kleinmaßstäblichen Reihen- und Einfamilienhäusern. Die Dächer sind nicht nur von oben, sondern auch von den umliegenden Straßen und vom großen Vorplatz aus sichtbar. Wir haben eine Dachlandschaft mit einfachen Pultdächern entwickelt, die schrittweise zur Mitte des Komplexes höher werden. Die Traufen an den Gebäuderändern haben wir hingegen so weit wie möglich nach unten gezogen. Aus der Nähe betrachtet wird dadurch der Bezug zu den umliegenden Häusern hergestellt. Zusätzlich konnten wir mit dieser Dachkonstruktion die verschiedenen technischen Apparaturen unter der Hülle verbergen. Die Aluminiumstreckgitter sind mit einem transparenten Lack mit Kupferpigmenten behandelt, die rostrote und leicht rosarote Farbtöne erzeugen, wodurch die schönen unregelmäßigen Farbschattierungen entstehen und die Plastizität des Ensembles weiter verstärkt wird.

Haben Sie eine Vorliebe für die Verwendung von Aluminium oder Metallen im Allgemeinen?
Nein auf keinen Fall, ganz im Gegenteil. Ich versuche immer unvoreingenommen an einen neuen Ort, an ein neues Projekt heranzugehen und einen Entwurf Schritt für Schritt zu entwickeln. Die Verwendung der Materialien entwickelt sich parallel dazu. Wir versuchen innerhalb des Büros immer neue Materialien zu entdecken und genießen es, damit zu arbeiten.

Woraus gewinnen Sie Ihre Inspiration? Haben Sie noch Meister, Vorbilder oder Bauwerke, die sie in Ihrer Arbeit beeinflussen?
Nein, eigentlich nicht. Natürlich trage ich ein baukulturelles Erbe in mir, aber meine Inspirationen kommen nicht unbedingt aus der Architektur, eher aus der Kunst, dem Besuch von Städten oder auch aus der Natur. Ich ziehe es vor, mich durch Dinge inspirieren zu lassen, die der Architektur eher fernliegen, um so eine noch persönlichere Architektursprache zu entwickeln und diese zu kultivieren. Ich empfinde keines meiner Projekte als eine Referenz an ein historisches Gebäude oder ein Baudenkmal, ich versuche vielmehr meine Gebäude immer in der Gegenwart zu verankern.

Was bedeutet das genau? Was kennzeichnet die zeitgenössische Architektur Ihrer Meinung nach?
Ich beobachte selbst, dass wir in einer Zeit und einer Epoche leben, in denen sich Dinge sehr schnell entwickeln, eine Zeit, die durch die Mobilität der Menschen gekennzeichnet ist. Es entsteht dadurch die Gefahr, dass Architektur schnell obsolet wird. Ich versuche ganz bewusst, eine Architektur zu entwerfen, die sich die Menschen aneignen und über die Jahrzehnte hinweg verändern können.

Der Architekt hat schon immer eine zentrale Rolle in der Stadtentwicklung gespielt: An der Seite der Politik ist er extrem wertvoll, er bringt die Sichtweise des Praktikers und Humanisten ein, im Dienste der Stadt.

Aber führt das nicht automatisch zu einer auswechselbaren Architektur, zu Gebäuden ohne spezifischen Charakter?
Die Kunst liegt darin, eine Architektur mit starkem Charakter zu entwickeln, ohne dass dieser zum starren Korsett wird und zukünftige Entwicklungen nicht zulässt; eine sehr persönliche, beinahe künstlerische Architektur zu entwickeln, die auch sehr expressiv sein kann, die aber gleichzeitig ausreichend freizügig und intelligent ist, Nutzungsveränderungen zuzulassen ohne in der Form gefangen zu sein. Vor allem Kultureinrichtungen oder öffentliche Gebäude müssen etwas Typisches und Spezifisches an sich haben, da sie auf die eine oder andere Weise erkennbar und denkwürdig sein müssen. Die Bewohner müssen die Möglichkeit haben, sich das Bauwerk aneignen und sich mit ihm identifizieren zu können. Um das zu ermöglichen, muss die Architektur eine Geschichte erzählen.

Und wie sieht das beim Umbau von historischen Gebäuden wie dem Theater Gaîté Lyrique aus? Haben Sie eine bestimmte Vorgangsweise, um sich so einem Projekt anzunähern?
Ich versuche immer, einen klaren und eindeutigen Ansatz zu finden: Zum einen geht es mir darum, Respekt für den Bestand zu zeigen, einen Respekt, den ich erlernen, mir aneignen und zugänglich machen muss. Zum anderen geht es darum, den notwendigen Freiraum für eine zeitgenössische Intervention zu finden, die, ob respektvoll zurückhaltend oder gewagt, ein Projekt noch interessanter, funktioneller und schöner machen können. Für mich gibt es nichts Schöneres, als ein baukulturelles Erbe durch zeitgenössische Architektur zur Geltung zu bringen und wieder zum Leben zu erwecken. Diesen Dialog zwischen Alt und Neu finde ich sehr spannend. Die Aufwertung, der Um- und Ausbau des baukulturellen Erbes interessieren mich zunehmend mehr. Sie beinhalten einen sehr großen, konzeptuellen Reichtum. Gerade die Verflechtung zwischen Vergangenheit und Zukunft fasziniert mich, sie bildet den ganzen Reichtum einer Stadt und deren Fähigkeit, sich zu verändern und zu verwandeln.

Welche Aufgabe hat ein Architekt heute und in Zukunft, gerade was die Stadtentwicklung anbelangt?
Der Architekt hat schon immer eine zentrale Rolle in der Stadtentwicklung gespielt: An der Seite der Politik ist er extrem wertvoll, er bringt die Sichtweise des Praktikers und Humanisten ein, im Dienste der Stadt. Angesichts des zum Teil extrem schnellen Wachstums bestimmter Städte ist die Vision des Architekten heute mehr als je zuvor unerlässlich. Der Architekt muss eine zentrale Rolle in der Entwicklung und im Wachstum der Städte einnehmen, muss aber auch helfen, anders zu bauen, für andere Nutzungen und Funktionen und einen anderen Lebensrhythmus. Die Architektur muss die Veränderungen unserer Gesellschaft und unsere neuen Lebensweisen begleiten und unterstützen. Heute verändern sich unsere Lebensweisen und unsere Wünsche sehr schnell. Die Architektur kann deshalb auch nicht statisch bleiben, sie muss sich überlegen, wie sie offener für Anpassungen werden kann, sie muss die Veränderungen antizipieren und sich überlegen, welche Kapazitäten sie besitzt. Wenn ihr das nicht gelingt, wird sie schnell veraltet und überflüssig.

Heißt das, dass sich die Architekten in Zukunft viel stärker mit städtebaulichen Aufgaben beschäftigen werden müssen als mit dem Bau von Gebäuden?
Ich glaube, dass die besten Städtebauer auch Architekten sind, die bereits Bauwerke realisiert haben und damit mit der Komplexität städtischer Gefüge zu tun gehabt haben. Es ist in unserer Berufssparte entscheidend, einen Blick, ein Gefühl und eine Vision sowohl für den kleinen als auch für den großen Maßstab, also für das einzelne Bauwerk ebenso wie für das urbane Geflecht, zu entwickeln. In meiner Vorstellung ist ein vollendeter Architekt jemand, der diese beiden Qualitäten miteinander in sich vereinen kann.

Gibt es einen Zeitpunkt, ab dem man als Planer nichts mehr lernen kann?
Nein, man lernt nie aus. Und jedes Projekt ist Anreiz, von vorne zu beginnen. Das ist ja gerade das Faszinierende an unserem Beruf: Kein Projekt ähnelt dem vorhergehenden, der Bauherr wechselt, die Aufgabenstellung ist neu, das Land ist ein anderes. Planen, Entwerfen und Realisieren ist mit stetigem Lernen verbunden, das ist eine permanente Herausforderung, sodass unser Beruf nie an Spannung verliert.


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