FORUM 11/2015 - BAUEN - LES HALLES, Paris/FR


Visualisierung des Patio Les Halles. © L'Autre Image

Bauwerk mit Rückgrat - 
Forum Les Halles, Paris, Frankreich
Das Forum Les Halles und der Umsteigebahnhof Châtelet – Les Halles sind per Definition ein kontroversielles Projekt. Das erklärt sich aus einer Vielzahl von Faktoren, zu denen unter anderem seine Schlüsselposition im Herzen der Pariser Innenstadt, seine symbolische und geschichtliche Bedeutung und seine verkehrsinfrastrukturelle Funktion als größter Bahnhof Frankreichs und Europas gehören.

TEXT MICHAEL KOLLER

Nicht zuletzt führt sein negatives Image der vergangenen Jahre, aber auch seine Bedeutung im Stadtviertel und generell als eines der größten innerstädtischen Einkaufs- und Freizeitzentren zu hitzigen Diskussionen. 2004 hatte die Stadt Paris einen geladenen städtebaulichen Ideenwettbewerb für den Umbau und die Neugestaltung des zirka zehn Hektar großen Grundstücks zwischen Rue Rambuteau, Rue Pierre Lescot, Rue Berger und Rue du Louvre ausgeschrieben, bei dem Projekte von OMA, MVRDV oder auch Jean Nouvel für Aufmerksamkeit sorgten. Die Jury entschied sich letztlich für den Entwurf von Architekt und Städteplaner David Mangin von Seura Architectes, der in seinem Vorschlag eine deutliche bauliche Trennung zwischen dem Park auf der Westseite und dem Forum Les Halles auf der Ostseite vorsah. Auf der Basis dieses Entwurfs wurden 2007 Wettbewerbe für die Neugestaltung des Nelson-Mandela-Parks einerseits und des Forum-Gebäudes andererseits ausgelobt. Die Sanierung und Erweiterung des Umsteigebahnhofs Châtelet – Les Halles war schließlich 2008 Teil eines Projekts der RATP, dem
Betreiber des öffentlichen Nahverkehrsnetzes. Patrick Berger und Jacques Anziutti konnten sich mit dem bescheidenen, gefühlvollen und sehr funktionellen Projekt „La Canopée“ gegen ihre internationale Konkurrenz durchsetzen und gingen als Sieger zur Neugestaltung des Forums und des unterirdischen S-Bahnhofs hervor.

Die Baustelle mit dem Centre Pompidou im Hintergrund. © Franck Badaire

GRUNDLEGEND NEU
Die Veränderungen im Projekt von Patrick Berger und Jacques Anziutti beschränken sich nicht nur auf die neuen Gebäude und die Vergrößerung der Geschäfts- und Verkehrsflächen. Mit der Neugestaltung der Bauwerke wurden vor allem auch die Hauptzugänge zu den Verkehrsplattformen neu organisiert. Diese wurden von der ostseitigen Rue Pierre Lescot (Porte Lescot) zur Parkseite hin verlegt. Kommt man heute von Osten, aus der Richtung, in der auch das Centre Pompidou liegt, und tritt unter die Glasüberdachung des Hofs, der durch die beiden peripheren Gebäude gebildet wird, gelangt man auf eine Art Aussichtsplattform, einen halb überdachten Balkon, von dem aus man die Geschäftszonen auf Straßenniveau (insgesamt über 10.000 m²) links und rechts überblickt und der einen Blick in die Tiefe, in den rundum verglasten Patio und die dahinterliegenden Geschäftszonen der drei Untergeschoße erlaubt.
In den darüber liegenden zwei Geschoßen wird ein Kulturzentrum samt Konservatorium mit rund 2.600 m², Sendestudios mit 600 m2, öffentlich zugängliche Tanz- und Musikübungsräume und ein Kulturzentrum für Schwerhörige und Gehörlose mit 1.500 m² sowie ein Hip-Hop-Zentrum mit 1.400 m² und nicht zuletzt eine Bibliothek mit 1.200 m² eingerichtet.


Längsschnitt. © Patrick Berger et Jacques Anziutti Architectes

Durch das Freimachen des Osteingangs, die abgerundeten Fassaden der beiden flankierenden Gebäude und die Form der Dachrippen wollten die Architekten ganz bewusst den Blick der Passanten auf die neugestaltete Parklandschaft im Westen und auf das alte Börsengebäude aus dem Jahr 1886 lenken. So wird die Ost-West-Achse erneut betont und die gesamte Umgebung aufgewertet. Durch die parkseitig gelegten Zugänge zu den Verkehrsplattformen öffnet sich dem aus dem Patio nach oben kommenden Passanten sukzessive der Blick auf den von Seura Architectes und dem Landschaftsplaner Philippe Raguin neu gestalteten und 4,3 Hektar großen Nelson-Mandela-Park.

 Das Ensemble besteht aus drei, tragwerkstechnisch voneinander unabhängigen Baukörpern. © Franck Badaire

ROBUSTES TRAGWERK
Die drei tragwerkstechnisch voneinander unabhängigen Baukörper lagern auf den insgesamt 72 bereits existierenden und in einem Raster von 11 x 16 Meter angeordneten Stützen auf. Zwölf davon mussten zur Aufnahme der Lasten aus dem U-förmigen Kastenbalken entscheidend verstärkt werden.
Der massive, aus 100 Millimeter dicken Stahlblechen bestehende Balken mit einer Höhe von 1.500 Millimetern und einer Breite von 3.500 Millimetern nimmt alle Lasten und Momente aus den 15 fischbauchartigen Stahlträgern der zentralen Überdachung und aus den Kragträgern des kleinen Vordachs auf. Diese Dachrippen mit ihren geschwungenen Flügeln berühren sich nicht, überlappen sich aber gegenseitig, sodass die Plaza vor Regen und direkter Sonneneinstrahlung geschützt wird. Die Konstruktion erlaubt außerdem eine natürliche Entlüftung und Entrauchung im Brandfall. Die Gestalt der Flügel wurde anhand von hunderten von Patrick Berger angefertigten Skizzen und mittels 3-D-Studien und physischen Modellen erarbeitet und getestet und so Schritt für Schritt bis zu ihrer definitiven Form verfeinert.


Montage des U-förmigen Kastenbalken. © Franck Badaire

Die Stahlrippen sind großformatige, schrägstehende Lamellen, die wiederum aus den Hauptträgern und den querlaufenden Finnen bestehen, an denen die Glasplatten befestigt sind. Untereinander werden diese aufgrund der Windlasten nach Osten flacher werdenden Lamellen durch Druck- und Zugstäbe verbunden und gegen Kippen ausgesteift. Das kleine Vordach über der Porte Lescot besteht aus Kragarmen, die im rechten Winkel an der Schmalseite des U-förmigen Balkens festgeschweißt wurden.

TRANSLUZENTE HÜLLE
Das Dach mit seinen ockerfarbenen, zirka 170 x 95 Zentimeter großen Glasplatten und die straßenseitigen Fassaden bilden eine einheitliche, durchlaufende Hülle, die sich wie ein halb transparentes Tuch über das Ensemble legt und in einem Vordach über den 4,5 Meter hohen Schaufenstern des Erdgeschoßes endet.
Um die seitlichen Eingänge zu den Zügen zu markieren, schlagen die Vordächer eine Welle. Die Monumentalität und Größe des Bauwerks wird nur aus der Luft ersichtlich, wodurch es zu einem Ankerpunkt im dichten Pariser Gebäudenetz werden wird. Durch das straßenseitig hinabgezogene, schuppenartige Dach wird dem Komplex auf Straßenhöhe seine Masse genommen. Außerdem fungieren diese Lamellen entlang der ost- und südseitig verlaufenden Straßen als Sonnen- und Sichtschutz der dahinterliegenden, gänzlich verglasten Räume. Auch das Abrunden der hofseitigen, vertikalen Glasfassaden führt zu einer visuellen Verkleinerung der beiden Flügelbauten, von denen der nordseitige größer ausgeführt wurde.


Die patioseitigen Glasfassaden der Obergeschosse der Flügelbauten. © Franck Badaire

Der strenge gleichmäßige Abstand der vertikalen Fensterpfosten sorgt für die notwendige optische Ruhe und Stabilität angesichts hunderter Passanten, die in Zukunft über die Plaza flanieren werden. Als Blickfang wurde die zentrale Regenrinne, die das Regenwasser aller Rippen sammelt, so ausgeformt, dass das Regenwasser in einem Wasserfall zu Boden strömt und als Bach in den Patio fließt.
Das Forum mit den darunterliegenden Bahnsteigen bildet Zentrum und Drehscheibe einer Vielzahl unterirdischer Gänge und Fußgängertunnels, die sich wie Tentakel in die Straßen der umliegenden Viertel ausbreiten. Die Fußgängertunnel führen zu den verschiedenen, oft hunderte Meter entfernt gelegenen Seiteneingängen, von denen der neue Zugang am Place Marguerite de Navarre ebenfalls von Patrick Berger und Jacques Anziutti entworfen wurde. Neben der Neugestaltung des Forums erhielten die Architekten auch den Auftrag, die gesamten Bahnsteige und deren Orientierungssysteme zu sanieren und neu zu gestalten.
Im Unterschied zum ehemaligen Gebäude von Claude Vasconi und Georges Pencreach von 1979 haben Patrick Berger und Jacques Anziutti ein klar ausgerichtetes Ensemble mit einer Außen- und einer Innenseite, einer Straßen- und einer Parkseite sowie einer geschlossenen Ost- und einer weit geöffneten Westseite geschaffen, was die Orientierung für die Passanten in Zukunft wesentlich verbessern und damit das Image des Orts stark aufwerten sollte.

Die fischbauchartigen Stahlträgern, die das „La Canopée“ bilden. © Franck Badaire
INTERVIEW
NACHGEFRAGT BEI PATRICK BERGER

Was ist Les Halles für Sie? Bahnhof, Einkaufszentrum, Park oder Kulturzentrum?
Patrick Berger: Für mich ist es schlicht ein Tor nach Paris. Auch der ursprüngliche Markt entstand hier, weil sich hier einst der Hafen der Stadt befand. Les Halles ist natürlich alles zusammen und darum auch einer der interessantesten Ankunftsorte in Paris, weil die Überlagerung all dieser Funktionen sicherlich ein Charakteristikum der Stadt ist.

Form, Größe und Materialität des Bauwerks, so wie es von Ihnen entworfen wurde und wie es in seiner Umgebung liegt, scheinen völlig natürlich, sowohl von außen als auch von innen. Wie kam es zu dieser Form?
Das Gebäude hat sich aus materiellen und immateriellen Einflüssen ergeben. Zu den materiellen Einflüssen zähle ich Parameter wie statische oder verkehrstechnische Anforderungen oder auch programmatische Erwartungen. Zu den immateriellen Einflüssen gehören Sonne und Wind, die Lichtreflexionen auf den einzelnen Bauteilen, aber auch die Proportionen des Gebäudes im Verhältnis zu seiner Umgebung, die Wünsche und Erwartungen der Anrainer, usw.

Paris ist bekannt für die Überlagerung, Schichtung und Kreuzung verschiedenster Funktionen, sowohl unterirdisch als auch oberirdisch, ein Bild, das man von utopischen Stadtentwürfen her kennt. Ist Les Halles die Realisierung einer städtebaulichen Utopie?
Das würde ich so nicht sagen. Allerdings ist es tatsächlich so, dass das Gebäude einen Schnitt durch den Grund gleicht. Durch den großen verglasten Patio können Reisende auf dem Weg zu den Verkehrsplattformen beziehungsweise die Käufer in den Galerien die Schichtung und Überlagerungen gut sehen und sich deren Existenz bewusst werden. Durch die Neuorganisation der Eingänge zur Metro und zu den Zuglinien unter dem Flügel wird das Auf- beziehungsweise Abtauchen in den Untergrund auch gefühlsmäßig und visuell sehr deutlich.

Sicht auf die mit Glasplatten bedeckten und geschwungenen Dachrippen. © Franck Badaire

PROJEKTDATEN
LA CANOPÉE
Bauherr: Ville de Paris (www.paris.fr)
Architekten: Patrick Berger (Entwurf) et Jacques Anziutti Architectes, Paris (berger-anziutti.com)
Assistent: Mathieu Mercuriali
Landschaftsarchitekt: Seura, David Mangin (www.seura.fr)
Tragwerksplaner und Haustechnik: Ingérop (www.ingerop.fr)
Fassadenplaner: Arcora (www.arcora.com), Emmer Pfenninger Partner AG (www.eppag.ch)
Akustikplaner: ACV (www.acv-acoustique.fr)
Lichtplaner: Ingélux (www.ingelux.com)
Brandschutzberater: Vulcanéo (www.vulcaneo.fr)

VERKEHRSKNOTENPUNKT CHÂTELET – LES HALLES
Bauherr: RATP (www.ratp.fr)
Architekten: Patrick Berger (Entwurf) und Jacques Anziutti Architectes
Tragwerksplaner: Ingérop mit Muttoni et Fernandez (www.mfic.ch)
Akustikplaner: ACV (www.acv-acoustique.fr)
Lichtplaner: Ingélux (www.ingelux.com)
Fahrgastleitsystem: Attoma (www.attoma.eu)
Haustechnik: RATP (www.ratp.fr)

Modell mit dem unterirdischen Fußgängertunnel zum Place Marguerite de Navarre. © Patrick Berger et Jacques Anziutti Architectes

ECKDATEN FORUM LES HALLES
Einkaufszentrum: 170 Geschäfte, 26 Kinosäle, 150.000 Kunden im Forum / Tag, 40 Mio. Besucher / Jahr
Flächen:
Grundfläche: 125 m x 145 m (Diagonale: 190 m)
Nutzfläche: 13.500 m²
Gesamtnettofläche: 21.600 m²
Dachfläche: 17.000 m²
Höhe: 14,5 m
Fassadenfläche: 25.000 m²
Konstruktion:
Freie Trägerspannweite Dachkonstruktion Westseite (Parkseite): 90 m
Freie Trägerspannweite Dachkonstruktion Ostseite (Porte Lescot): 25 m
Auflagerpunkte: 12 Stück
Auflagerpunkte Gesamtprojekt: 72 Stück
Stützenraster: 11 m x 16 m
Anzahl der Glasplatten: rund 18.000 Stück
Größe der Glasplatten: ca. 170 X 95 cm
„Jardin des Halles“:
Ursprüngliche Grünfläche: 330 m x 145 m
Neue Fläche nach Umbau: 450 m x 145 m

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