FORUM 09/2013 - STÄDTEBAU - IJ Dock Amsterdam/NL



Ein städtebauliches Experiment: Durch Überschneidung unterschiedlicher Sichtachsen aus der Altstadt mit einem Block von 60 x 180 x 44 Metern entstanden die scharfkantigen und dynamischen Gebäudeformen der neuen IJ-Dock-Insel in Amsterdam. © your captain luchtfotografie


Das Gebäude, eine Insel - die Insel, ein Gebäude
„Der Justizpalast sowie der gesamte IJ-Dock-Komplex stammen aus einer anderen Zeit, einer Zeit, als die Architektur in den Niederlanden noch nicht durch Schwierigkeiten und Trostlosigkeit geplagt wurde, noch unantastbar schien und auf den Wellen der Hochkonjunktur mitschaukelte”, schreibt der niederländische Publizist Jaap Jan Berg über das am  6. September 2013 offiziell eröffnete IJ-Dock an den südlichen Ufern des IJ-Flusses in Amsterdam.

Text von Michael Koller

In der Mitte der Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts wurden unabhängig voneinander verschiedene Ideen zur Gestaltung und Bebauung des rund 500 Meter westlich des Amsterdamer Hauptbahnhofs gelegenen Westerdoksdijks geboren: Jaap Hofstede, leidenschaftlicher Segler und Projektentwickler, schwebte an dieser Stelle ein schwimmendes Hotel mit einem Jachthafen vor. Der Rijksgebouwendienst (RGD) – verantwortlich für alle Bundesimmobilien und Eigentümer eines Teiles dieser IJ-Bucht – wollte hingegen den neuen Sitz der Wasserpolizei (KLPD) an diese Stelle verlegen.

Die Gemeinde Amsterdam wiederum war auf der Suche nach einem geeigneten Platz für einen Teil seiner Verwaltung. 1997 wurden die Architekten Dick van Gameren und Bjarne Mastenbroek durch den Rijksbouwmeester – wichtigster Ratgeber des niederländischen Staates in den Bereichen „Architektur“ und „räumlicher Qualität“ – gebeten, aus den verschiedenen Initiativen und Vorschlägen einen städtebaulichen Entwurf zu entwickeln.



Justizpalast mit Hotel im Hintergrund © John Lewis Marshall

Kompakte Insel
Mastenbroek und Van Gameren präsentierten ein erstes Konzept mit drei parallel angeordneten Baukörpern, die durch Kanäle voneinander getrennt und über Fußgängerbrücken miteinander verbunden waren. Sowohl der RGD als auch die Gemeinde Amsterdam zeigten sich grundsätzlich von dem Ensemble beeindruckt, bevorzugten aber letztlich die überarbeitete und kompaktere Version einer Gebäudegruppe auf einem gemeinsamen Sockel. Die kompakte Volumetrie sollte verhindern, dass eine Gebäudewand die Sicht auf den Fluss beeinträchtigt. 


Das endgültige Bauvolumen entstand durch ein einfaches Rechenexempel: Endgültiges Bauvolumen = maximal mögliche Kubaturen - Aussparung weitergeführter Sichtachsen und Straßenfluchten.

Nachdem die Gebäudehöhen auf 44 Meter bzw. zwölf Geschoße festgelegt waren, begannen die Entwerfer den massiven Block zu modellieren und die Gebäudefläche auf die gewünschten 89.000 Quadratmeter einzugrenzen. Ausgangspunkt für die endgültige Form des Ensembles war neben den Gebäudeumrissen der durch die Überschneidung verschiedener Sichtachsen aus der Altstadt entstehende Straßenraum. Das Ergebnis ist ein kantig durchschnittener Komplex von sechs Bauwerken. Der 60 x 180 Meter große Sockel wird durch eine zweigeschoßige Tiefgarage genützt. Ebenso vielfältig wie die Architektur ist das Raumprogramm: Neben dem Room Mate Aitana Hotel an der Nordwestseite, einem Wohngebäude an der Ostseite und dem Bürogebäude an der Nordostecke wird das IJ-Dock vor allem durch den südlich an der Stirnseite Richtung Hauptbahnhof gelegenen Justizpalast geprägt.

Blick in das Stiegenhaus und den öffentlichen Bereich des Justizpalastes
© John Lewis Marshall



Palast der Justiz
Bereits Anfang Dezember 2012 erfolgte die Fertigstellung des durch Claus en Kaan Architecten Amsterdam entworfenen Justizpalastes, er ersetzt nun den zu eng gewordenen Altbau an der Prinsengracht im Herzen Amsterdams, in dem das Gericht seit 1836 untergebracht war. Die zwei durch eine Glasbrücke verbundenen Neubauten bieten mit 34.000 Quadratmetern Fläche Raum für zirka 700 Arbeitsplätze, 19 Sitzungssäle und 26 Angeklagtenzellen. Hohe Sicherheitsauflagen begründen die innere Raumorganisation in zwei streng getrennte Zonen: in eine öffentlich zugängliche und einen nur von Befugten betretbaren Sicherheitsbereich. „An sich war es ein planerischer Wahnsinn, einen Justizpalast in eine derartige Gebäudeform hineinpressen zu wollen”, meint Felix Claus; dennoch ließ man sich auf das Experiment ein.

Der Eingang des Justizgebäudes liegt an der Südostseite der Insel. Die Westfassade ist durch einen großen Einschnitt und die zurückversetzte, begrünte Hülle in den oberen Stockwerken gekennzeichnet. Ein von Dick van Gameren gewünschter weitgehend transparenter Sockel wurde durch die große Anzahl von Liften, Treppen, Installationsschächten und die Tragkonstruktion zur Lastabtragung der Auskragung über dem Eingang unmöglich. Ein langgestrecktes, sechsstöckiges und lichtdurchflutetes Foyer erschließt die Gerichtssäle. Die Marmorböden des öffentlich zugänglichen Treppenhauses und die hölzernen Akustikdecken verleihen dem Bau eine imposante Ausstrahlung. Auch Wände und Balustraden sind aus Marmor, aus dem selbst einige Möbel des Foyers gefertigt wurden.



Wohnbau mit Bürokomplex © Jurjen Zeinstra
Raum für Büros
Zwei der insgesamt fünf Bauvolumen – das Bürogebäude für die Wasserpolizei sowie der benachbarte Wohnbau – stammen von Zeinstra van Gelderen architecten. Die repetitiven Trennwände zwischen den einzelnen Büros haben die Architekten zum Ausgangspunkt für die Fassadenabwicklung mit unterschiedlich breiten Fenstern herangezogen. Die dem Wasser zugewandten Flächen werden durch unterschiedlich breite, dunkle und glatte sowie helle und raue Fassadenplatten charakterisiert. Die Anlegestege der Polizeiboote liegen um ein Niveau tiefer als der straßenseitige Gebäudeeingang.


Wohnung unter der Schnittkante © Jeroen Musch

Raum zum Wohnen
Auch die von Zeinstra van Gelderen Architecten entworfenen 56 Wohnungen auf elf Geschoßen wurden Ende 2012 übergeben. Im Erdgeschoß wurden Geschäftsflächen untergebracht. Auch dieses Gebäude zeichnet sich durch seine aparte, kantige Form und einen Wohnturm aus. Seine straßenseitige, hellgrüne Backsteinziegelfassade mit braunen Balkonen, Erkern, Rahmen, Türen und Kojen – eine Referenz an indische Wohnhäuser – hebt sich von seinen Nachbarn ab. Die Beimengung perlmuttartiger Elemente in den Ton der Backsteinziegel verleiht diesen im Sonnenlicht einen zartgoldenen Glanz. Im bewussten Kontrast zur straßenseitigen Fassade steht die dem Wasser zugewandte Seite; mit ihren raumhohen, sieben Meter breiten und verglasten Falttüren bietet sie den Bewohnern maximale Nähe zum Fluss.



Room Mate Hotel © Ricardo Labougle

Raum zum Genießen
Aus den Neunzigerjahren stammt der erste Entwurf von Jan Bakers Architecten zu einem Hotel mit Jachthafen, eine Idee, die letztlich in den Entwurf des IJ-Dock Hotels einfloss. Ohne große Veränderungen wurde auch durch den anfänglichen Betreiber, die französische Accor-Gruppe, die Einteilung und Lage der Räume übernommen. Vor allem die mehrgeschoßigen Lufträume, die beim Betreten der Lobby den Blick auf Jachthafen, Restaurant und Bar zulassen, blieben erhalten. Während der Ausführungsphase erfolgte ein Betreiberwechsel. Die spanische Hotelkette Room Mate übernahm zwar im Wesentlichen die vorliegenden Pläne, im ersten Obergeschoß wichen die Zimmer jedoch mehreren Konferenzräumen. Der Großteil der Flächen für Technik, Zulieferung sowie Küche samt Nebenräumen wurde zwischen dem Straßenniveau und den beiden Parkgaragen-ebenen untergebracht. Die Fassade ist nichttragend ausgeführt und weitestgehend verglast. Bakers Architecten wollten ein transparentes Volumen, das die Masse des Gebäudes aufhebt, Durchblicke schafft und das abendliche Leben im Hotel nach außen sichtbar werden lässt.
Es ergeben sich hierdurch prachtvolle Ausblicke auf Altstadt, Jachthafen und Fluss. Das von Saint-Gobain entwickelte farblose, das Tageslicht stark reflektierende Glas, das zum Einsatz kam, erlaubt einen maximalen Lichteinfall, ohne dass es zu einer unangenehmen Erwärmung der Zimmer kommt. In den untersten Etagen verhindern Lamellen und Auskragung an der Westfassade eine zusätzliche Über­hitzung.


Axonometrie mit Sichtachsen: grün das Room Mate Hotel

Die Berücksichtigung der städtebaulichen Richtlinien und attraktiven Sichtachsen bestimmte die Aufteilung des Gesamtvolumens in zwei Baukörper, wobei der turmartig emporragende, an den Justizpalast angrenzende Teil Longstay-Appartements aufnimmt. Das Hotelinterieur stammt aus der Feder des spanischen Innenarchitekten Tomas Alia, mit Ausnahme des Restaurants im untersten Geschoß, auf Jachthafenebe, für das Bakers Architeken verantwortlich zeichnen.


Blick auf die Spitze des Wohnbaus © John Lewis Marshall

Ob das IJ-Dock tatsächlich zu einer neuen Amsterdamer Landmark werden wird, wie sich das manche erhoffen, wird sich zeigen. Felix Claus sieht das IJ-Dock mit seinem Programmmix und den hunderten Menschen, die in Zukunft auf der Insel arbeiten und wohnen werden, jedenfalls als echte Bereicherung und Impulsgeber für das IJ-Ufer. Fest steht, dass die architektonische Gestaltung sich dem strengen städtebaulichen Konzept unterordnet, der öffentlich erschlossene Freiraum wird hierdurch zum uneingeschränkten Protagonisten. Darin liegt wohl auch die Einzigartigkeit und Kraft dieser baustilistischen Übung – wie die spektakulären Luftbilder zeigen.

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