DBZ 04/2013 – BAUTECHNIK - Dachkonstruktion für den neuen Hauptbahnhof in Wien


Die tonnenschweren Rautendächer aus Stahl und Aluminium scheinen schwerelos über den Bahnsteigen zu schweben © Albert Wimmer ZT GmbH

Rauten aus Stahl, Dachkonstruktion für den neuen Hauptbahnhof in Wien
Der Neubau eines Bahnhofs in einer historisch gewachsenen Stadt ist in Europa eher eine Seltenheit und – wie man schon in Berlin und Stuttgart miterleben konnte – von heißen Diskussionen über Sinn und Notwendigkeit begleitet. Der Neubau des Wiener Hauptbahnhofs wurde erst durch das Freiwerden des Geländes des ehemaligen Frachtenbahnhofs der Österreichischen Bundesbahn (ÖBB) im Bereich des ehemaligen Südbahnhofs möglich. Der Bau eines neuen Durchgangsbahnhofs und die Auflassung der alten Kopfbahnhöfe der Ost- bzw. Südbahn erforderte die Verlegung der Schienentrassen und damit einen sowohl infrastrukturellen wie konstruktiven Eingriff.

Text von Michael Koller

Ein neuer Bahnhof für Wien
Im Dezember 2012 ging ein Teil des neuen Wiener Hauptbahnhofs offiziell in Betrieb. Der Durchgangsbahnhof, der erstmals in der Geschichte Wiens Züge aus allen Richtungen unkompliziert in alle Richtungen verbindet, repräsentiert für die ÖBB das bedeutendste und größte Investitionsprojekt und wird das Zentrum des neuen Stadtentwicklungsgebiets bilden.

In dem spektakulären Stahlgebilde ist kein einziges Bauteil waagerecht ausgerichtet, jede Raute ist ein eigenständiges Meisterwerk © Unger Steel Group/Renee del Missier

Charakteristisch für den neuen Bahnhof sind die Rautendächer über den Bahnsteigen. Sie wurden in Anlehnung an die Standarddächer der ÖBB entwickelt. Für die Architekten Hotz/Hoffmann/Wimmer spiegelt das Konzept des 2 500 m2 großen Rautendachs den Charakter und die Einzigartigkeit Wiens wider. Der Schwung des rhythmisch gefalteten Daches, das über den Bahnsteigen zu schweben scheint, kann auch als Symbol für die dynamische Energie der Bahn gelesen werden.
Der Bahnhof hat fünf Bahnsteige in einer Hochlage von ca. 7 m über dem Erdgeschossniveau mit einer Bahnsteigkantenlänge zwischen ca. 370 m für den Nahverkehr bis zu 455 m für den Fernverkehr.
Das Herzstück des neuen Hauptbahnhofs wird die rund 120 m lange, 10 m hohe und bis zu 35 m breite, lichtdurchflutete Bahnhofshalle sein, die trapezförmig und freitragend überdacht werden soll. An sie schließt eine fast gleich große Querhalle an, die die Verbindung zu den Bahnsteigen herstellt. Die Bahnhofshalle ist Teil eines 2-geschossigen, rund 20 000 m² großen Einkaufs- und Dienstleistungszentrums. Im Stockwerk darunter befinden sich 600 Autostellplätze.

Jedes Rautendach ist aufgrund der leichten Neigung des gesamten Bahnhofsdaches individuell und weicht in seiner Konstruktion von den anderen ab © Unger Steel Group/Renee del Missier

Kristallines Faltwerk
Die fünf parallelen Dächer liegen in einem Abstand von 38 m in Bahnsteigrichtung auf schräg positionierten, doppelten und massiv ausgeführten Stützenquerrahmen (SQR) auf. Jede der Dachbahnen ist bis zu 5-mal geknickt und wächst von beinahe flachen, einfachen, aber leicht verbreiterten Einzelbahnsteigdächern mit rund 1 500 m2 Photovoltaik-Paneelen am Ostende zu einem Faltwerk mit Tälern und Hügeln auf der anderen Seite an. An der Untersicht ist die Stahlkonstruktion mit Aluminiumplatten verkleidet, hinter denen sich die Brandschutzbekleidung verbirgt.
Die Länge eines jeden der insgesamt 14 Rautensegmente beträgt 76 m. Dort, wo sich die eine Dachbahn zu einem First nach oben knickt, faltet sich die benachbarte zur Traufe nach unten. Das Rautendach wird in seinem fertigen Zustand eine Breite von ca. 120 m und eine Länge von 210 m einnehmen und zwischen 6 m und 15 m über Bahnsteigniveau schweben. Die aneinander liegenden Parallelbahnen sind beim oberen Knick breiter und beim unteren schmaler, wodurch sie sich an diesen Stellen überlappen und verzahnen. Diese versetzten Faltungen erzeugen die Zick-Zack-Silhouette des Faltwerks.
Tageslicht dringt einerseits durch die Verglasungen der so entstandenen Öffnungen zwischen den einzelnen Rautenbahnen auf den Bahnsteig. Brandsicherheitstechnisch konnten in diesen vertikalen Glaselementen elegant Lamellen zur Brandrauchentlüftung des Gleisgeschosses eingebaut werden. Um die Belichtung auch in der Verbindungshalle zu optimieren, öffnet sich die Rautenkonstruktion im Zentrum, an ihrem höchsten Punkt, mit einem ebenfalls rautenförmigen Oberlicht aus VSG-Gläsern von etwa 6 x 30 m (pro Dachraute zwei Dreiecke von 6 x 15 m). Dadurch wird die gesamte Konstruktion leichter und durchlässiger, schafft eine optimale Belichtung bei Tag und erstrahlt in der nächtlichen Beleuchtung. Die in der Höhenentwicklung abgestuften Einzelbahnsteigdächer im Ausmaß von ca. 11 000 m² sind im modularen Systemraster von 19 m bzw. in den Übergangsfeldern im Raster von 28,5 m und einer Höhe von ca. 4 m über Bahnsteigniveau aufgebaut.

Holzmodell der Bahnhofsüberdachung © Albert Wimmer ZT GmbH

Stahlkonstruktion
Die Wahl für Stahl als primäres Konstruktionsmaterial erklärt sich einerseits aus der Liebe Albert Wimmers zu diesem äußerst präzisen Baumaterial und seiner langjährigen Erfahrung bei dessen Einsatz in anderen Großprojekten, wie bei der Erweiterung des Fußballstadions in Salzburg, dem EM-Stadion in Lemberg in der Ukraine oder beim Bau des Kraftwerks Freudenau in Wien.
Bei der Tragkonstruktion der Rautendächer, wie auch der Einzeldächer, handelt es sich um eine geschweißte und geschraubte Stahlkonstruktion, wobei die Hauptkonstruktion in EXC 3 und die Unterkonstruktion in EXC 2 der Stahlgüten S 355 und S 235 ausgeführt werden. Das Kernstück jeder Einzelraute besteht aus zwei raumhohen Trägerkonstruktionen, die zusammen mit jeweils zwei Verbundstützen einen Zweigelenkrahmen bilden, der gelenkig auf dem Unterbau auflagert. Die aus Faserbeton erstellten Verbundstützen einer Standardraute haben einen Systemabstand von 38 m, wobei die Stützen der benachbarten Rautendächer um eine halbe Rautenlänge versetzt angeordnet sind.
Die gesamten technischen Installationen, wie etwa elektrische Leitungen oder Frisch- und Abwasserleitungen, werden in den mit 6 mm Stahlblech verkleideten, V-förmigen schrägen Stützen geführt. Die Stützenquerrahmen bestehen aus einem Riegel mit einem raumhohen, Ι-förmigen Querschnitt, der die beiden Stahlstützenköpfe zu einem biegesteifen Rahmen verbindet. Die beiden Teile der Stützenquerrahmen werden auf der Baustelle, nach dem Aufstellen und noch vor dem Vergießen der Stützenfüße zusammengeschraubt. Sowohl der auf Druck beanspruchte Untergurt als auch der Obergurt dieser Riegel ist mit HEM-Profilen ausgeführt. Die Stützenfußplatten werden untergossen und die relativ eng stehenden Ankerschrauben mit 50 % der zulässigen Zugkraft vorgespannt.

In jeder einzelnen Raute stecken rund 7 000 Stunden Planungsleistung, rund 2 300 Träger und 12 700 Blechzuschnitte © Albert Wimmer ZT GmbH

Tragstruktur aus Fachwerken
Die Diagonal- und Längsfachwerke schließen direkt am Riegel der Stützenquerrahmen an, die im Wesentlichen die Tragfunktion für die ganze Dachfläche übernehmen. Weitere Fachwerke oder Träger dienen der Windaussteifung sowie der Torsionsaussteifung und zur Ausbildung der schmalen Dachränder. Der Großteil der Gesamtlasten des Daches wird direkt zu den Stützenköpfen abgeleitet. Die an den Randfachwerken entstehenden Kräfte werden in erster Linie von den Stützenquerfachwerken (SQFW) aufgenommen. Im Grundriss gesehen bilden die Randfachwerke zusammen mit den Diagonalfachwerken Dreiecke, wodurch die seitliche Aussteifung der Dachkonstruktionen gegeben ist.
Die Hängesäulen für die Oberleitungen im Bereich der Rautendächer werden am Untergurt der SQFW angeschraubt, die teilweise mit Seitenblechen verstärkt sind. Im Bereich der Einzelbahnsteigdächer werden die Hängesäulen für die Fahrleitungen an Querjochen montiert.

Insgesamt wird das Rautendach über den Bahnsteigen eine Fläche von 25 000 m² überdecken © Unger Steel Group/Renee del Missier
Der Zugstab ist ein kreisförmiger Vollquerschnitt mit einem Durchmesser von 70 mm und befindet sich in Höhe der Obergurtsystemachse des Mittelquerfachwerkes. Er verbindet die beiden Rautenhälften auf Zug miteinander. Die Pfetten befinden sich in der Obergurt- und Untergurtebene der Haupt- und Diagonalfachwerke und spannen in Nord-Süd-Richtung. Der Pfettenabstand beträgt 4,75 m.
Die darüberliegenden Trapezbleche spannen als Durchlaufträger und haben damit immer die gleiche Stützweite. Die Pfetten werden um ihre Eigenachse mit der Dachneigung verdreht eingebaut, damit das Trapezblech für die Dachhaut und das Trapezblech für die Brandschutzplatten und Untersichtverkleidung mit Setzbolzen an den Pfetten befestigt werden können. Die Pfettenkonstruktionen der Ober- und Untergurtebene sind ebenso wie die Verbindungsstäbe feuerverzinkt.


Axonometrie © Unger Steel Group

Schale aus Aluminium
Das Hauptaugenmerk des Entwurfs liegt auf der Ausbildung der Dachunterseite. Die Dachuntersichten sind zusätzlich zur Pult-Faltung nach strengen formalen Kriterien „gebrochen“, womit verschiedene Konizitäten geschaffen werden. Die Untersicht ist in feingliedrige Dreiecke aufgelöst, die ein kristallähnliches Bild mit einem vielfältigem Lichtspiel erzeugen. Sowohl die Untersichten der Rautendächer als auch der Einzelbahnsteigdächer sind mit einbrennlackierten Aluminium- bzw. Aluminiumverbundplatten verkleidet, wobei die Brandschutzschilder bei den Einzelbahnsteigdächern entfallen. Die Dachhaut besteht aus einem Aluminiumgleitbügelsystem, welches von einer trittfesten Dämmung gestützt und auf dem Trapezblech über der Primärkonstruktion befestigt wird.
Die Rautendächer haben eine Neigung von ca. 8,5 °, während die Einzeldächer nur ein minimales Dachgefälle aufweisen. Das Rautendach wird mittels eines Vakuumsystems mit in Längsrichtung angeordneten Rinnen entwässert. Die zum Frostschutz beheizbaren Rinnen verfügen über einen Notüberlauf. Auch die zentral in Längsrichtung verlaufenden Regenrinnen der Einzeldächer werden über die Stützen entwässert.
Hallenreflektorleuchten, die flächenbündig, in einem Achsabstand von 10 m in die Untersichtsverkleidung eingebaut sind, sorgen für die notwendige direkte Grundbeleuchtung der Bahnsteige. So wie die Dächer sind auch die Dachinnenräume für Inspektionen an der Tragkonstruktion sowie für Instandhaltungen begehbar. Die Rautendächer und die Einzelbahnsteigdächer sind mittels ausklappbarer Treppen im Bereich der Einzelbahnsteigdächer zugänglich. Der Zugang im Rautendachbereich erfolgt jeweils durch Dacheinstiegsluken von der Dachoberfläche her.


Im Zentrum der Raute öffnet sich die Konstruktion und gibt ein Oberlicht (hier in der Bauphase) in Form eines Kristalls von etwa 6 x 30 m frei. Integrierte Glaselemente sorgen für die transparente Wirkung des Bahnsteigdachs © Unger Steel Group/Renee del Missier

Jede Menge Stahl
Der gesamte architektonische und konstruktive Stahlbau wird von der international operierenden Unger Steel Group ausgeführt, die zusammen mit Albert Wimmer bereits die Erweiterung des Fußballstadions in Salzburg realisiert hat. Auch die Schlosser-, Glas- und Spenglerarbeiten liegen in den Händen von Ungersteel. Der Großteil der Stahlbauteile wird in den Produktionshallen des Ungerwerks vorab zugeschnitten, vorgebohrt, zusammengebaut, präzise zusammengeschweißt und mit Korrosionsschutz behandelt sowie anschließend auf der Baustelle verschraubt. Der Stützenquerrahmen bspw. Wird im Werk zu einem monolitischen Teil zusammengeschweißt, sodass er auf der Baustelle nur noch festgeschraubt werden muss.
Die Produktionszeit und Montagezeit für eine einzelne Raute beträgt im Durchschnitt dreieinhalb Monate. Dabei werden für die Montage der etwa 2 400 losen und ca. 1 000 zusammengeschweißten Bauteile einer einzelnen Raute ca. 15 000 Schrauben mit einem Gesamtgewicht von 25 t benötigt, die die Elemente in unterschiedlichen Winkeln, Knoten, Verstrebungen und Verbindungen miteinander verbinden. Nach der Fertigstellung der 14 Rauten- und fünf Einzelbahnsteigdächer sowie des Daches über dem südlichen Vorplatz werden rund 54 100 Stahlprofile,
271 100 Bleche und 254 000 Schrauben verarbeitet worden sein. Das ergibt in der Summe 52 700 lose und 22 200 geschweißte Bauteile mit einem Gesamtgewicht von rund 5 000 t Stahl.

Panoramasicht auf die Rautendächer im Juli 2012 © Unger Steel Group

Bahnhöfe müssen funktionellen, sicherheitstechnischen und ästhetischen Anforderungen gerecht werden. Sie sind in den vergangenen Jahrzehnten aber auch wieder zu urbanen Zentren herangewachsen, die die Innenstädte beleben. Dies ist auch vom neuen Hauptbahnhof Wien zu erwarten. Das Verkehrskonzept sowie die Gestaltung der Bahnhofsvorplätze auf der Nord- und Südseite werden für die Erreichbarkeit der Geschäfts- und Gastronomiebereiche im Bahnhofsinneren und damit für die Aktivierung des neuen Stadtviertels entscheidend sein.
Mit dem ungewöhnlichen Faltwerk der 14 Rautendächer formen die Architekten eine schon von weitem sichtbare architektonische Landmarke mit hohem Wiedererkennungswert für den Hauptbahnhof, die auch städtebaulich Schwerpunkte setzt.


Luftbild des Stadtentwicklungsgebiets um den neuen Hauptbahnhof © ÖBB/Roman Bönsch

Masterplan Bahnhof Wien – Europa Mitte
Durch die Neuorganisation der Verkehrswege, die neben den Schienentrassen auch eine Vielzahl von Straßen und Brücken inkludiert, wurde eine etwa quadratische Fläche von rund 500 m Seitenlänge in zentrumsnaher Lage frei. Durch die Umplanung des Gebietes wird die massive Barriere durch das derzeitige Bahnareal beseitigt. Für die Entwicklung eines Masterplanes für das neue, 109 ha große Gebiet (Stadtteil Wien-Südbahnhof) schrieben die Stadt Wien, die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) und die Österreichische Post AG ein geladenes Expertenverfahren aus. Auf Empfehlung der Jury entschlossen sich die Eigentümer für eine Kombination der Entwürfe von Albert Wimmer sowie der Architekten Theo Hotz und Ernst Hoffmann.
Durch die Neugestaltung dieses Stadtteils und des Bahnhofs wird auch die ursprünglich schlechte Anbindung der umliegenden Quartiere durch direkte Anschlüsse an das städtische Verkehrsnetz mit U-Bahn, Straßenbahn- und Buslinien verbessert. Im Zentrum des Stadtentwicklungsgebiets steht der neue Hauptbahnhof Wien, der mit seinem Gleiskörper das Gebiet diagonal durchdringt. Für alle Immobilienprojekte werden von den jeweiligen Bauträgern gesonderte Architekturverfahren ausgelobt.
Der Masterplan sieht neben der Schaffung von Schulen und Kindertagesstätten insgesamt rund 5 000 Wohnungen sowie Arbeitsplätze für 20 000 Menschen vor. Die Gesamtplanung des Projektes Wien Hauptbahnhof wird durch das Wiener Team, bestehend aus den Planungsbüros Werner Consult ZT GmbH, ISP ZT GmbH, Stoik und Partner ZT GmbH, Tecton Consult ZT GmbH und Ingenieurbüro Dipl.Ing. Wilfried Pistecky ausgeführt. In deren Auftrag werden die Architekturplanungen im Bereich der Verkehrsstation durch die Architekten Theo Hotz AG, Prof. Dipl.Ing. Ernst Hoffmann ZT-GmbH und Albert Wimmer ZT-GmbH, im Bereich der Anlagen Süd und Ost durch das Architekturbüro Zechner & Zechner ZT-GmbH ausgeführt. Die Technische Gebäudeausrüstung und die Medienplanung der Eisenbahnanlagen wird vom Büro TB Eipeldauer und Partner GmbH sowie der Gawaplan Haustechnische Anlagen GesmbH geplant.

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