FORUM – BAUEN - Passerelle zum Mont Saint-Michel (DFA)/FR
Der Weg ist das Ziel
Der
Mont Saint-Michel gehört seit 1979 zum Unesco-Weltkulturerbe. Er ist
ein Touristenmagnet und wird jährlich von etwa 3,5 Millionen
Menschen besucht. Außerdem ist er seit 1998 auch Teil des Welterbes
„Jakobsweg" in Frankreich. 2001 schrieb die französische
Regierung einen Wettbewerb zur Schaffung einer neuen Verbindung
zwischen dem Festland und dem Berg aus, den Dietmar Feichtinger
Architectes (DFA) aus Paris zusammen mit Schlaich, Bergermann und
Partner aus Stuttgart für sich entscheiden konnte.
Text
von Michael
Koller
Die
Gemeinde Le Mont-Saint-Michel mit ihren 43 Einwohnern (Stand 1.
Jänner 2010) liegt auf einer kleinen felsigen Insel, dem Mont
Saint-Michel, in der gleichnamigen Bucht im Département Manche in
der Region Basse-Normandie. Die Benediktinerabtei Mont-Saint-Michel
dominiert die nur zirka 55.000 Quadratmeter große Insel und gilt als
eines der schönsten Beispiele französisch-normannischer
Architektur, um 1022 entstanden. Seit 2001 leben in dieser
befestigten Abtei Ordensleute der Fraternité Monastique de
Jérusalem. Der Mont hat trotz der großen Touristenströme seine
Funktion als Pilgerstation auf dem Jakobsweg beibehalten.
Seit
1879 ist der Berg über einen Damm mit dem Festland verbunden. Von
1901 bis etwa 1939 wurde auf dem Damm neben der Straße sogar eine
Schmalspurdampfeisenbahn betrieben, die man 1944 jedoch wieder
einstellte. Das Projekt zur Schaffung einer neuen Verbindung zwischen
dem Festland und dem Mont Saint-Michel ist Teil eines
großmaßstäblichen Projekts zum Schutz des Litorals. Durch den Bau
des zirka zwei Kilometer langen Damms, der eine Barriere in der
Meeresbucht darstellt, werden die natürlichen Meeresströmungen
unterbrochen, was im Laufe der vergangenen Jahrzehnte zu einer
zunehmenden Versandung der Bucht geführt hat. Die Ablagerungen von
Schlick, die der Fluss Couesnon aus dem Landesinneren mitbringt,
verstärken dieses Phänomen. Diesen Effekt potenzierte zudem die
jahrhundertelange Trockenlegung der Küstengebiete zur Schaffung
neuen Ackerlands und die Kanalisierung des Couesnon: Der Mont
Saint-Michel verlor seinen Inselcharakter.
Dynamische
Landschaft
Einen
Spaziergang durch das Watt schildert Dietmar Feichtinger als
einzigartiges Erlebnis. Es ist ein sprichwörtliches Eintauchen in
die Landschaft. Der Mont Saint-Michel ist der Brennpunkt innerhalb
der unendlich wirkenden Ebene der Küstenlandschaft. Das Fehlen von
Bezügen und messbaren Anhaltspunkten unterstützt diese unendliche
Weite. Das Durchqueren des Watts bis zum Kloster war für Pilger und
Besucher vor der Errichtung des Damms durchaus gefährlich, da eine
herannahende Flut durch die Unebenheit des Watts nicht von überall
aus zu sehen war. Der Gezeitenunterschied von bis 14 Meter wurde
manchen Reisenden zum Verhängnis.
Die
Planungsaufgabe beginnt am Eingang zum Naturschutzgebiet. Die
Umbauarbeiten umfassen auch die Erneuerung des Straßenunterbaus der
Uferstraße, der aktuelle Parkplatz wird um zirka 2,5 Kilometer an
den Rand des Schutzgebietes zurückverlegt. Für Dietmar Feichtinger
ist das Projekt keine Brücke, sondern ein Steg, eine Passerelle. Es
hat sowohl konstruktiv als auch funktionell nichts mit einer Brücke
zu tun. Es ist ein langer Weg, der an Land beginnt, auf schmalen
Stützen fortgeführt wird, um letztendlich auf einer künstlichen
Landzunge am Fuße des Berges anzudocken. Der Bau des Stegs und die
notwendige Terrassierung der Zufahrtsstraße für den Shuttle- und
Zulieferverkehr entlang des Couesnon-Ufers durfte nach der Auffassung
von DFA die natürliche Landschaft nur so gering wie möglich
verändern. Der Steg ist ein technisches Bauwerk, der zwar Teil der
Landschaft ist, aber dennoch einen Kontrast zum Kulturbauwerk Mont
Saint-Michel darstellt.
Die Stahlunterkonstruktion ©DFA |
Sanfter
Schwung
Die
Wegeführung ist das Ergebnis konzeptueller Überlegungen, gepaart
mit hydraulischen Grundbedingungen. Der Weg zum Berg vollzieht sich
in einem weit ausholenden, sanften Schwung, so als wollte er den
Besucher gar nicht zum Berg führen. Mit diesem Verlauf wollte
Feichtinger ganz bewusst eine Promenade kreieren, die dem Besucher
verschiedene Perspektiven und Blicke nicht nur auf den Berg, sondern
auch auf das offene Meer und selbst zurück auf das Festland
eröffnet. Außerdem kommt der Steg durch das weite Ausholen beinahe
in einem Winkel von 90 Grad zur auftretenden Meeresströmung zu
stehen. Die Stützen bilden somit einen geringen Widerstand für das
Wasser, wodurch horizontal angreifende Kräfte stark reduziert
werden.
©Thomas Jouanneau |
Gegen
den Strom
Der
Mont Saint-Michel liegt an der Mündung des Couesnon. Zu den
vorbereitenden Maßnahmen gehörte somit auch der Bau eines
Gezeitendamms an der Flussmündung. Um die notwendigen hydraulischen
Maßnahmen zu bestimmen und die Auswirkungen des Gezeitendamms auf
das Strömungsverhalten erforschen zu können, wurde die Bucht in
einem 900 Quadratmeter großem Modell nachgebaut. Wasser, das die
Flut in die Bucht bringt, wird mithilfe des Damms zurückgehalten.
Das aufgestaute Wasser wird in der ersten Stunde der neuen Flut –
jenem Zeitabschnitt, in dem die Strömung den meisten Sand
mittransportiert – wieder losgelassen und erzeugt somit den
notwendigen Gegenstrom, der den Sand wieder in das offene Meer
zurückspült.
Dieses kontrollierte Speichern und Ablassen von Meerwasser sorgt einerseits dafür, dass sich kein neuer Sand in der Bucht ablagern kann, und anderseits dafür, dass der bereits abgelagerte Sand wieder ins offene Meer gespült wird. Außerdem erhofft man sich dadurch, dass selbst die Salzwiesen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten gebildet haben, weggespült werden. Der Damm, der bereits jetzt vor der Fertigstellung des neuen Stegs in Betrieb ist, erzielt – schneller als erwartet – bereits den gewünschten Effekt.
Tragwerk
Dietmar
Feichtinger versucht in all seinen Projekten, die technischen
Anforderungen mit Architektur zu verbinden und in Architektur zu
übersetzen. Er entwickelte zusammen mit Schlaich, Bergermann und
Partner eine Konstruktion, die bei Flut über dem Wasser zu schweben
scheint. In der Landschaft bildet das Bauwerk einen horizontalen
Strich. Das Brückendeck ist sehr einfach ausgebildet, minimalistisch
in seiner Erscheinung und gleichzeitig ambitioniert in seiner
Konzeption und technischen Umsetzung. Um zu verhindern, dass der Steg
einer Brückenkonstruktion mit wuchtigen Pfeilern gleicht,
entschlossen sich die Partner für eine Konstruktion mit vielen
dünnen Stützen und kleinen Spannweiten. Die in die Tiefe, an den
Rand der Fahrbahn zurückversetzten Stützen unterstreichen dessen
Horizontalität. Die Tragkonstruktion besteht aus runden Stahlstützen
mit einem Durchmesser von 250 Millimetern und einer Wandstärke die –
abhängig von der genauen Position – zwischen 40 und 60 Millimeter
beträgt. Diese Stahlstützen sind in Längsrichtung in einem Abstand
von zwölf Metern elastisch in Betonfundamenten eingespannt. Die
Betonpfähle, die in der etwa 30 Meter unter der Oberfläche
liegenden Gesteinsschicht verankert sind, beginnen zwei Meter unter
dem zu erwartenden neuen Niveau des Meeresbodens. Nur alle 120 Meter
gibt es fest eingespannte Stützen. Die Tragkonstruktion der Fahrbahn
und der beidseitig auskragenden Gehwege besteht aus Stahlprofilen.
©DFA |
Der Steg besitzt ein asymmetrisch verlaufendes Profil mit einer Auskragung zwischen 4,50 und 6,50 Metern auf der einen, und einer Auskragung zwischen 1,50 und 2,50 Metern auf der gegenüberliegenden Seite. Zwischen diesen mit Eichenholzplanken belegten, durchlässigen Gehsteigen liegt die 6,50 Meter breite, aus Betonelementen aufgebaute Straße. Das Holz verweist auf den maritimen Charakter und klassisches Baumaterial für Stege. Die für den Personentransport eingesetzten Pendelbusse des Typs Contrac DES (Double End Steering) halten 200 Meter vor dem Ende des Stegs. Im Bereich dieses „Terminals" kommt es zu dessen Verbreitung. Die gesamte Konstruktion wurde in Hinsicht auf das Ansteigen des Meeresspiegels um 60 Zentimeter erhöht ausgeführt. Das Tragwerk ist so simpel, robust und dezent wie möglich entworfen, damit es den Witterungsbedingungen so gut wie möglich standhalten kann und so wenig Wartungsarbeit wie möglich benötigt. Die Konstruktion musste einerseits sehr statisch sein, um die auftretenden Bremslasten aufnehmen zu können, und andererseits sehr elastisch, um die temperaturbedingten und materialbedingten Dehnungen und Schrumpfungen verarbeiten zu können.
An
seinem Ende verjüngt sich der Steg auf nur mehr eine Fahrbahn und
endet in einer neuen Betonzunge am Fuße des Berges, die gleichzeitig
das Unterschwemmen der Stadtmauern in diesem Bereich verhindern soll.
Um auf die Zugangshöhe des Klosters von 6,50 Meter zu gelangen,
fällt der Steg mit einem Prozent Neigung am Ende ab. Während etwa
50 Stunden pro Jahr wird der Landepunkt des Steges vom Meer
überspült, womit der Berg dann wieder zu einer Insel wird.