FORUM - INTERVIEW - Michael Zinganel, Wien/AT
Michael Zinganel © Simon Jappel |
SURFER ZWISCHEN DEN DISZIPLINEN
Liest
man die Biografie von Michael Zinganel und erforscht den Reichtum
seiner Arbeiten und Veröffentlichungen im Crossover zwischen Stadt-,
Sozial- und Geschichtsforschung, wird einem bewusst, dass seine
Außergewöhnlichkeit und Innovationskraft wohl darin besteht, nicht
klar zuordenbar zu sein.
Michael Koller im Gespräch mit Michael Zinganel
Wie
wird man vom Architekten zum Künstler und Forscher?
Der
Wechsel verlief allmählich, er wurde durch bestimmte Begegnungen
beeinflusst, die ich wohl bewusst oder unbewusst gesucht habe.
Beispielsweise hatte ich sehr früh, noch während meines Studiums,
bei Günther Domenig die Möglichkeit zu „bauen“ bekommen. Es war
1987, als ich als Projektleiter für das Funder-Werk II den gesamten
Prozess vom Entwurf bis hin zur Schlüsselübergabe mitmachen konnte.
Aber
hat dich diese Erfahrung und die positive Anerkennung deiner Arbeit
nicht stimuliert, als Architekt weiterzuarbeiten? Das war damals doch
eine planerisch sehr aktive Zeit in der Steiermark.
Natürlich
hat diese Erfahrung im internen Wettbewerb mit jungen Kollegen und
Kolleginnen viel Anerkennung eingebracht, zum anderen hat sie aber
auch meine Neugierde, wie denn das „Bauen“ funktioniert,
vorläufig einmal gestillt. Denn während dieses Prozesses glaubte
ich zu erkennen, dass einer konsequenten, konzeptionellen
architektonischen Entwicklung bei der Realisierung eines Gebäudes
große Grenzen gesetzt sind, obwohl die Rahmenbedingungen für diesen
Auftrag ideal waren: Ich konnte – unter dem Schutz eines so
prominenten Architekten – als Entwerfer sehr, sehr weit gehen.
Das
war die Zeit, die man heute als Grazer Schule kennt, oder?
Ja,
damit war vor allem das Milieu an der TU gemeint, mit den
selbstverwalteten Zeichensälen, in Kombination mit einer Büropraxis,
die von sehr vielen, von Wohnbaugenossenschaften und der
Hochbauabteilung des Landes ausgeschriebenen Wettbewerben
gekennzeichnet war. Die Büros waren gewissermaßen die Erweiterung
der Zeichensäle.
Trotzdem
haben unsere Professoren meiner Meinung nach das Milieu sehr wohl
mitgeprägt, aber eher indirekt: Sie vertraten sehr strenge,
eigenwillige, nicht immer populäre Lehrmeinungen, die miteinander
kaum kompatibel waren. Trotzdem waren sie sehr tolerant und
begeistert, wenn Studierende engagiert und mit qualitativer Tiefe
gegen sie rebelliert haben, egal ob das der strenge Hochbauer, der
Anthroposoph oder der traditionelle Städteplaner war. Diese extremen
Positionen haben unter den Studierenden zu einer fruchtbaren
Verunsicherung geführt, die uns veranlasste, außerhalb der
Universität nach Verbindungsfiguren bzw. Orientierungshilfen zu
suchen.
Warum und wie kam bei dir der Wechsel in die Kulturproduktion?
Ich
habe bereits nach ein paar Semestern als Kulturreferent der
Hochschülerschaft zu arbeiten begonnen und mir dadurch die mir
fehlende künstlerische Ausbildung selbst organisiert. Das passierte
durch eine Vielzahl von Workshops mit jungen, aber auch mit sehr
etablierten Künstlern und Künstlerinnen unterschiedlichster Medien,
die jeweils in öffentlichen Veranstaltungen endeten. Diese waren bei
den Teilnehmenden und beim Publikum sehr erfolgreich und halfen mir
beim Aufbau eines Netzwerks, das mir später erlaubte, mich von der
Architektur in Richtung Kunst zu „emanzipieren“.
Du
bist nach deinem Diplom auch sofort in die Niederlande an die
Abteilung für Videokunst der Jan van Eyck Academie gegangen …
Ja,
ich bin von einer Videokünstlerin als Assistent zur Sommerakademie
nach Salzburg eingeladen worden und dort von einer Kollegin an die
Jan van Eyck Academie weitervermittelt worden, um meine
raumgreifenden Videoarbeiten weiterzuentwickeln. Ich bekam ein
Stipendium als bildender Künstler.
Was
hat dir die postgraduale Ausbildung gebracht?
Sie
bewirkte zuallererst einen Schock. Ich trat in ein Betriebssystem mit
anderen Wertmaßstäben und Zeitzyklen ein. Ich war es auch noch
nicht gewohnt, mir selbst immer neue Themen zu stellen. Ich habe
daher nach neuen Partnern gesucht. So entstand mit anderen Künstlern
und Künstlerinnen, die alle einen ähnlichen postgradualen Prozess
der Selbstproblematisierung und Selbstbefragung durchmachten, die
Gründung der Gruppe U.K.F., deren Mitglieder damals in Brüssel,
Frankfurt und Wien lebten.
Wir gehen als Künstler davon aus, dass Migration nicht den Ausnahmefall darstellt, sondern einen Teil des Alltags. Um diese Normalität von Migrations und Mobilitätsbewegungen zu veranschaulichen, müssen wir sie an alltäglichen, der Mittelschicht vertrauten Orten darstellen.
Die
künstlerischen Aktivitäten und die Ausbildung in Maastricht waren
also eine Art Auszeit, die dich wieder zu deinen Kernkompetenzen und
nach Wien zurückgeführt haben?
Mein
Architekturdiplom „Videoinstallationen zwischen Architektur,
Skulptur und Wahrnehmungsmodell” von 1991 stellte gewissermaßen
meinen vorübergehenden Abschied von der Architektur dar. Später,
innerhalb der Künstlergruppe U.K.F., war es insbesondere die
Zusammenarbeit mit Simon Wachmuth, die den Übergang zu einem
diskursiven Format bereitete und mich zur Beschäftigung mit dem
öffentlichen Raum zurückführte. In „Freiraum Superblock”,
meinem ersten eigenständigen Projekt nach der Auflösung der
Künstlergruppe und meiner Rückkehr nach Wien, entwickelte ich
1994/1995 im Rahmen eines Lehrauftrags an der TU-Wien mit
Studierenden eine Wanderausstellung, in dessen Zentrum die Geschichte
und mögliche Zukunft der leeren oder vergessenen
Gemeinschaftseinrichtungen der Wiener Gemeindebauten aus der
Zwischenkriegszeit standen.
Kann man das als den Beginn eines neuen Abschnitts deiner künstlerischen Arbeit betrachten?
Ja,
das Projekt war mein Einstieg in ein diskursiveres, mehr sozial
orientiertes Arbeiten, das Architektur und Stadt als politisch
umkämpften Raum verstand. In kurzfristig öffentlich zugänglich
gemachten Waschhäusern, Parteilokalen oder Veranstaltungsräumen
präsentierten wir den Besuchern Festschriften, Fotos und Pläne der
damaligen Zeit. Sie veranschaulichten die fortschrittliche, geradezu
utopische Imaginationswelt der Wiener Sozialdemokratie und
vermittelte den Bewohnern den kulturhistorischen und
sozialpolitischen Wert ihrer Wohnbauten.
Und
die Dissertation in Geschichte?
Der
Historiker Siegfried Mattl bot mir 1999 im Zuge von Veranstaltungen
rund um mein zweites Langzeitprojekt „Real Crime. Die
Produktivkraft des Verbrechens für Sicherheitstechnik, Architektur
und Stadtplanung“ an, bei ihm eine Dissertation zu schreiben. So
kam ich in die fast absurde Situation, als Architekt eine
Dissertation in Geschichte schreiben zu können. Viele der Seminare
an der Zeitgeschichte setzten sich mit dem Thema Stadt auseinander
und ergänzten damit ausgezeichnet mein Fachwissen als Architekt.
Zusätzlich habe ich mir Wissen in Wirtschaftsgeschichte und
Wissenschaftstheorie angeeignet, was zum Verständnis der
wirtschaftlichen Hintergründe gesellschaftlicher Entwicklungen im
Übergang von Fordismus und Postfordismus einerseits und der
Abgrenzungsgefechte und methodischen Konflikte zwischen
unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen andererseits sehr
hilfreich war.
Die
Installationen, die du mit Michael Hieslmair machst, und euer
aktueller Forschungsschwerpunkt drehen sich um das Thema Migration.
Ist das Thema aus einem politischen Anliegen heraus entstanden?
Natürlich
liegt dem zuerst ein politisches Anliegen zugrunde. Aber wir wollten
die „Migrationsforschung“ zum Anlass nehmen unsere Raummodelle
und -theorien zu überdenken. Denn beim Durchdeklinieren des Themas
Architektur und Verbrechen endete ich immer wieder bei mächtigen
Metaphern der Kontrolle: Bei panoptischen Architekturen, Festungen
oder anderen Räumen des Ein- und Ausschlusses. Ich hatte den
Eindruck, containerartige Raummodelle zu verstärken, die der
dynamischen, sozialen Realität in einer globalisierten Gesellschaft
nicht mehr entsprachen. Wir wollten Werkzeuge zu einer angemessenen
Darstellung des Phänomens Migration entwickeln, die über
Flüchtlingsschiffe, Auffanglager oder illegale Märkte hinausgehen.
Es ist uns wichtig, Migrationsströme in ihrer Abhängigkeit von
globalen oder überregionalen politischen Prozessen aufzuzeigen, und
ihre Auswirkungen auf die Lebensumstände vor Ort und das Entstehen
dynamischer und multilokaler Loyalitäten zu illustrieren.
Die
Orte eurer Untersuchungen überraschen, gerade weil sie so
alltäglich, fast banal sind.
Wir
gehen davon aus, dass Migration nicht den Ausnahmefall darstellt,
sondern einen Teil unser aller Alltag. Um diese Normalität von
Migrations- und Mobilitätsbewegungen zu veranschaulichen, müssen
wir sie an alltäglichen, der örtlichen Mittelschicht vertrauten
Orten darstellen. Gleichzeitig illustrieren wir die Abhängigkeit der
Mehrheitsbevölkerung von den Dienstleistungen der Migranten. Deshalb
erscheinen unsere Untersuchungsorte wie etwa die Autobahnraststätte,
der Schrebergarten, das alpine Tourismuszentrum oder das Krankenhaus
so banal. Dennoch sind sie alle Knotenpunkte transnationaler
Migration und regionaler Mobilität.
Gerade als ich als Theoretiker wirklich Anerkennung gefunden hatte, habe ich 2005 die Zusammenarbeit mit Michael Hieslmair gesucht, um mich wieder stärker als forschender Künstler im Ausstellungswesen zu betätigen. Ich hatte das Bedürfnis wieder zu „bauen“.
Es
sind aber nicht nur die Schauplätze, mit denen ihr das Interesse der
Betrachter erweckt.
Wir
bedienen uns unterschiedlicher Techniken, um die Komplexität und
Vielschichtigkeit der Migration an die Mittelklasse heranzuholen. Die
großmaßstäblichen Zusammenhänge stellen wir durch Wegenetze dar,
das sind abstrahierte Landkarten, die aus den Wegen einer
übersichtlichen Anzahl ausgewählter Akteuren bestehen, zum Teil
Migranten, zum Teil Pendler, zum Teil Sesshafte, die sich an einem
bestimmten Netzwerkknoten kreuzen. Diese Wegenetze sind durchaus
ästhetisch attraktive Skulpturen. Die individuellen Erfahrungen
dieser Akteure geben wir durch kleine, Comic-artige Zeichnungen mit
Sprechblasen oder über Tonbandaufnahmen auf Kopfhörern wieder, die
als Audiostationen in die Wegenetze eingebaut werden. Diese ziehen
die Besucher gewissermaßen in die Installation hinein und stellen
eine Intimität zwischen Zuhörern und den einzelnen Erzählungen
her.
Auffällig
und für Architekten natürlich sehr anziehend sind die
diagrammartigen Modelle, mit denen ihr eure empirischen
Untersuchungen darstellt.
Ich
denke, dass den Architekten diese Darstellungstechniken prinzipiell
vertraut sind: Viele arbeiten in der Entwurfsphase mit Methoden des
Mapping, wenn Sie den Personenfluss durch Stadtteile oder Gebäude
skizzieren. Wir verwenden dieselbe Art von Skizzen und bauen sie zu
mitunter riesigen dreidimensionalen Skulpturen aus. Die mögliche
Assoziation mit farbigen Leitsystemen aus den 1970er-Jahren oder mit
utopischen Stadtmodellen von Friedman oder Constant ist dabei nicht
ganz unbeabsichtigt: Das Erscheinungsbild imitiert utopische
Architekturentwürfe, zeigt aber nichts anderes als einen Ausschnitt
sozialer Realität von Migranten und anderen mobilen Subjekten, der
auf strengen empirischen Untersuchungen aufbaut.
In
späteren Projekten haben wir versucht, die Hilfskonstruktionen für
das Wegenetz zu minimieren, Gebäudegrenzen wegzulassen und auch alle
Hinweise auf die Landschaft oder den Maßstab zu eliminieren. Die
Architektur kann dann nur mehr anhand der Wege und ihrer Knotenpunkte
als sozialer Raum imaginiert werden. So entstehen kybernetische
Modelle, die sich gewissermaßen wie das Negativ zum gebauten Raum
verhalten.
Wie
würdest du dich heute selbst definieren? Kann man das überhaupt
noch?
Die
Definition spielt für mich heute nicht mehr eine so große Rolle.
Ich denke, dass die Methoden unserer Forschungsarbeit und die Formate
ihrer Umsetzung entscheidend sind. Sie entwickeln sich mit jeder
neuen Aufgabenstellung, dem Untersuchungsort und dem Feedback aus den
Begegnungen weiter und bereichern so unsere Wissensformen. Gerade als
ich als Theoretiker wirklich Anerkennung gefunden hatte, habe ich
2005 die Zusammenarbeit mit Michael Hieslmair gesucht, um mich wieder
stärker als forschender Künstler im Ausstellungswesen zu betätigen.
Ich hatte das Bedürfnis wieder zu „bauen“.